BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 23.10.2014 - 2 BvR 2566/10 (= ASYLMAGAZIN 1-2/2015, S. 53 f.) - asyl.net: M22402
https://www.asyl.net/rsdb/M22402
Leitsatz:

Die Frage, ob eine Freiheitsentziehung vorliegt, wenn ein abgelehnter Asylbewerber, dessen Zurückweisung nicht ohne Verzögerung vollzogen werden kann, gegen seinen Willen im Transitbereich des Flughafens untergebracht wird, ist in der Rechtsprechung umstritten. Ein Oberlandesgericht, das diese Frage trotz Kenntnis des Rechtsstreits nicht an den BGH vorlegt, handelt willkürlich. Dementsprechend liegt ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor.

Schlagwörter: Vorlage, Vorlageverpflichtung, Vorlagepflicht, Zurückweisung, Flughafenverfahren, Transitbereich, Flughafen, Freiheitsentziehung,
Normen: GG Art. 101 Abs. 1 S. 2, GG Art. 101, FGG § 28, FGG § 28 Abs. 2, AufenthG § 15 Abs. 6,
Auszüge:

[...]

1. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 ist verletzt, wenn ein Gericht die Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht willkürlich außer Acht lässt (BVerfGE 13, 132 <143>; 42, 237 <241>; 76, 93 <96>; 87, 282 <285>). Diese Voraussetzungen sind erfüllt, weil das Oberlandesgericht gemäß § 28 Abs. 2 FGG, Art. 111 FGG-RG zur Vorlage des Rechtsstreits an den Bundesgerichtshof verpflichtet und die Nichtvorlage objektiv unter keinem Gesichtspunkt vertretbar war.

a) Die Kammer konnte einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter prüfen, obwohl die Beschwerdeführerin Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht gerügt hat. Im Rahmen einer zulässig erhobenen Verfassungsbeschwerde ist das Bundesverfassungsgericht nicht darauf beschränkt, zu untersuchen, ob die gerügte Grundrechtsverletzung vorliegt. Es kann die angegriffenen Entscheidungen vielmehr unter jedem in Betracht kommenden Gesichtspunkt auf ihre verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit hin überprüfen (vgl. BVerfGE 42, 237 <240 f.>; 312 <325 f.>; 54, 117 <124>; 71, 202 <204>; 113, 29 <46 f.>; 124, 235 <241 f.>).

b) Das Oberlandesgericht war gemäß § 28 FGG in der bis zum Inkrafttreten der Gesetzesreform am 1. September 2009 gültigen (Art. 112 Abs. 1 FGG-RG) und nach Art. 111 Abs. 1 und Abs. 2 FGG-RG weiterhin anwendbaren Fassung zur Vorlage an den Bundesgerichtshof verpflichtet, weil es bei der Entscheidung über eine weitere Beschwerde von der auf weitere Beschwerde ergangenen Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts abwich. Zumindest die ebenfalls auf sofortige weitere Beschwerde ergangene Entscheidung des Oberlandesgerichts München vom 12. Dezember 2005 ist eine Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts im Sinne von § 28 Abs. 2 FGG, die die entscheidungserhebliche Rechtsfrage anders beantwortete und damit zu einem anderen Ergebnis kam. Denn das Oberlandesgericht München vertrat nach ausführlicher Erörterung des Meinungsstands in Rechtsprechung und Literatur die Auffassung, dass eine Freiheitsentziehung vorliege, wenn ein abgelehnter Asylbewerber, dessen Zurückweisung nicht ohne Verzögerung vollzogen werden kann, gegen seinen Willen im Transitbereich des Flughafens untergebracht werde (Beschluss vom 12. Dezember 2005 - 34 Wx 157/05 -, InfAuslR 2006, S. 139, 141).

Dass § 15 Abs. 6 AufenthG erst nach dieser Entscheidung eingeführt worden ist, ist unerheblich. Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts im hier angegriffenen Beschluss bleibt die vor Einführung von § 15 Abs. 6 AufenthG ergangene Rechtsprechung für die entscheidungserhebliche Rechtsfrage relevant. Denn die Gesetzesänderung hat jedenfalls für den Zeitraum vor Ablauf der 30-Tage-Frist keine Klärung herbeigeführt. Auch für den Zeitraum nach Ablauf der 30 Tage ist nicht abschließend geklärt, ob eine verfassungsrechtliche oder lediglich eine einfach-gesetzliche Verpflichtung für eine richterliche Anordnung besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2011 - V ZB 275/10 -, InfAuslR 2011, S. 449). Nach wie vor stellt sich nach Ablehnung des Asylgesuchs daher die Frage, ob die Unterbringung im Transitbereich eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darstellt, die gemäß Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG der richterlichen Anordnung bedarf. Allein vor dem Hintergrund dieser weiterhin streitigen Rechtsfrage (vgl. zum Streitstand Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Bd. II, § 15 Rn. 127 ff., 66. Ergl. Dezember 2012) ist zu klären, wie § 15 Abs. 6 AufenthG den Vorgaben der Verfassung entsprechend und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil vom 25. Juni 1996 - Nr. 17/1995/523/609, Amuur ./. Frankreich, InfAuslR 1997, S. 49 ff.; Urteil vom 24. Januar 2008 - Nr. 2978/03 und 29810/03, Riad und Idiab ./. Belgien) auszulegen ist.

c) Die Voraussetzungen für die Pflicht zur Vorlage an den Bundesgerichtshof lagen mithin zweifelsfrei vor; das Unterlassen der Vorlage war sachlich nicht vertretbar. Obwohl die divergierende Rechtsprechung von der Beschwerdeführerin ausdrücklich in das Verfahren eingebracht wurde und derselbe Senat des Oberlandesgerichts bereits anderslautende Entscheidungen getroffen hatte, fehlt eine Auseinandersetzung mit der Vorlagefrage. Die bloße Feststellung, dass § 15 Abs. 6 AufenthG erst nach der anderslautenden Rechtsprechung eingeführt wurde, führt angesichts der weiterhin ungeklärten Rechtsfrage nicht dazu, dass die Vorlage vertretbar unterbleiben konnte. Insoweit hat das Oberlandesgericht Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verkannt.

2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 28. September 2010 ist aufzuheben, ohne dass es einer Entscheidung über die weiteren hiergegen gerichteten Rügen der Beschwerdeführerin bedarf. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). [...]