VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 16.02.2015 - 10 B 403/15 - asyl.net: M22658
https://www.asyl.net/rsdb/M22658
Leitsatz:

1. Ein weniger als sechs Monate abgelaufenes Einreisevisum ist nicht nach Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO zuständigkeitsbegründend, wenn es nicht ursächlich für die Einreise in das Gebiet der Mitgliedstaaten ist, weil der Antragsteller erst nach seinem Ablauf eingereist ist.

2. Wird ein ersuchter Mitgliedstaat durch die Zustimmungsfiktion des Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO zuständig, obwohl der ersuchende Mitgliedstaat nach Art. 16 Abs. 1 Dublin-III-VO zuständig wäre, ist der ersuchende Mitgliedsstaat zur Ausübung des Selbsteintrittrechts aus Art. 17 Dublin-III-VO verpflichtet, um die Familieneinheit zu erhalten.

3. Wird ein ersuchter Mitgliedsstaat durch die Zustimmungsfiktion des Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO zuständig, obwohl der ersuchende MItgliedsstaat nach Art. 16 Abs. 1 Dublin-III-VO zuständig wäre, kann der Antragsteller die Verpflichtung des ersuchenden Staats zum Selbsteintritt als wehrfährige individualschützende Rechtsposition geltend machen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Visum, abgelaufenes Visum, Zustimmungsfiktion, Selbsteintritt, Familieneinheit, subjektives Recht, Dublinverfahren, familiäre Beistandsgemeinschaft, Sonstige Familienangehörige, Schengen-Visum,
Normen: VO 604/2013 Art. 12 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 22 Abs. 7, VO 604/2013 Art. 16 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 17, VO 604/2013 Art. 12 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 13 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 22 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

II. Der Antrag ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Abschiebungsanordnung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem gesetzlich angeordneten Vollzug der Abschiebungsandrohung überwiegt. Hier überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin, denn nach der im vorliegenden Verfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angeordneten Abschiebung der Antragstellerin nach Italien.

Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidungen auf § 27a und § 34a AsylVfG. Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von EU-Recht oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung an, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll.

Es ist schon zweifelhaft, ob diese Voraussetzungen vorliegen. Da die Antragstellerin ihren Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes nach dem 1. Januar 2014 gestellt haben, sind nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (vom 29.6.2013, Abl. L 180 – Dublin III VO –) die Vorschriften dieser Verordnung anzuwenden. Nach Art. 12 Dublin III VO kommt eine Zuständigkeit Italiens in Betracht, weil die Antragstellerin im Besitz eines Einreisevisums für Italien war. Dieses Visum war allerdings kein (bei Einreise der Klägerin) gültiges Visum im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Dublin III VO, weil es nur bis zum 19. Mai 2014 gültig war. Nach Art. 12 Abs. 4 Dublin III VO begründen auch (nicht länger als sechs Monate) abgelaufene Visa, aufgrund deren der Antragsteller in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, die Zuständigkeit des ausstellenden Staates, solange der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat. Die Anknüpfung an abgelaufene Visa setzt allerdings voraus, dass diese rechtliche notwendige Voraussetzung für die Einreise waren (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III VO, 2014, Art. 12 K23). Das war hier nicht der Fall, weil die Klägerin erst nach Ablauf des Visums und damit unabhängig von diesem in die Bundesrepublik eingereist ist. Angesichts dessen spricht Überwiegendes dafür, dass Italien nicht aufgrund von Art. 12 Abs. 4, Abs. 2 Dublin III VO zuständig geworden ist, sondern die originäre Zuständigkeit aufgrund von Art. 13 Abs. 1 Dublin III VO bei der Antragsgegnerin lag.

Die Antragstellerin hat darüber hinaus schon in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt angegeben, dass sie von der Unterstützung ihrer in Deutschland lebenden Tochter abhängig sei. Insofern spricht nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung Überwiegendes für eine schon originäre Zuständigkeit der Antragsgegnerin aufgrund von Art. 16 Abs. 2, Abs. 1 Dublin III VO.

Eine Zuständigkeit Italiens folgt hier allenfalls aus Art. 22 Abs. 7 Dublin III VO. Danach ist davon auszugehen, dass der ersuchte Mitgliedsstaat dem Aufnahmegesuch eines anderen Mitgliedsstaats stattgegeben hat, wenn er nicht binnen eines Monats auf das Aufnahmegesuch antwortet. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn ein an sich unzuständiger Staat nur dadurch zuständig wird, dass er die an sich rechtmäßige Ablehnung des Aufnahmegesuchs nicht rechtzeitig erklärt hat.

Diese Folge aus dem Sanktionscharakter des Art. 22 Abs. 2 Dublin III VO findet ihre Grenzen jedoch dort, wo die Annahme der Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedsstaates grundrechtlich geschützte Positionen verletzen würde. Das ist hier der Fall. Nach dem Erwägungsgrund Nr. 16 der Dublin III-Verordnung soll ein zwischen einem Antragsteller und seinem Kind bestehendes Abhängigkeitsverhältnis, das durch den Gesundheitszustand oder hohes Alter des Antragstellers begründet ist, als ein verbindliches Zuständigkeitskriterium herangezogen werden, um die uneingeschränkte Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie zu gewährleisten.

Es gibt daher gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsgegnerin im Lichte von Art. 16 Abs. 1 Dublin III VO gehalten ist, die aufgrund der Fiktionswirkung von Art. 22 Abs. 7 Dublin III VO begründete Zuständigkeit Italiens durch Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III VO zu korrigieren (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III VO, 2014, Art. 22 K15).

Jedenfalls im Verfahren um vorläufigen Rechtsschutz geht das Gericht auch davon aus, dass die Antragstellerin insofern auch eine wehrfähige Rechtsposition besitzt. Zwar nimmt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich an, dass den Zuständigkeits- und Fristenregelungen der Dublin-Verordnungen keine subjektivrechtliche Dimension zukommt (vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – Rs. C-4/11 "Puid" –, juris Rn. 29; Urteil vom 10.12.2013 – Rs. C-394/12 "Abdullahi" –, juris Rn. 62; BVerwG, Beschluss vom 19.3.2014 – BVerwG 10 B 6.14 –, juris). Diese Rechtsprechung verhält sich indes nicht zu Zuständigkeitsregeln mit Bezug zu familiären Beziehungen. Der hohe Rang des Schutzes von Ehe und Familie ist dabei ein gewichtiges Argument für individuell durchsetzbare Berücksichtigung auch bei erklärter Übernahmebereitschaft eines Mitgliedsstaats. Erst recht gilt dies, wenn die Zuständigkeit einzig aus der Fiktionswirkung des Art. 22 Abs. 7 Dublin III VO folgt.

Darüber hinaus spricht einiges dafür, dass die Abschiebung (noch) nicht durchgeführt werden kann, weil der Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis entgegensteht.

Die Abschiebungsanordnung als Festsetzung des Zwangsmittels des unmittelbaren Zwangs (Abschiebung) darf erst dann ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung erfüllt sind. Dem Bundesamt obliegt in diesem Zusammenhang sowohl die Prüfung von zielstaats- als auch von inlandsbezogenen Abschiebungsverboten bzw. -hindernissen einschließlich der Prüfung, ob die Abschiebung aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden Gründen – wenn auch nur vorübergehend – rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist. Dies gilt nicht nur für bereits vor Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegende, sondern auch für etwa danach entstandene Abschiebungshindernisse.

Solche Abschiebungshindernisse werden sich hier voraussichtlich aus dem Alter und dem Gesundheitszustand der Antragstellerin ergeben. Nach dem vorgelegten ärztlichen Berichten leidet die Antragsteller neben den vorgetragenen, aber bisher nicht belegten Beeinträchtigungen infolge einer posttraumatischen Belastung und Altersdemenz auch an einem Mammakarzinom mittlerer Risikoklasse, dessen Diagnose und Behandlungsbedürftigkeit näherer Abklärung bedarf. [...]