EGMR

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Zitieren als:
EGMR, Urteil vom 18.11.2014 - 52589/13 (M.A. gegen Schweiz) - asyl.net: M22869
https://www.asyl.net/rsdb/M22869
Leitsatz:

1. Im Hinblick auf die Beweisführung im Verfahren befinden sich Asylsuchende in einer besonderen Situation. Es ist daher regelmäßig notwendig, im Zweifelsfall zu ihren Gunsten zu entscheiden, wenn es um die Einschätzung der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen und Beweismittel geht.

2. Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Aussagen eines Asylsuchenden können zu einem gewissen Grad dadurch erklärt werden, dass die Aussagen bei zwei Befragungen abgegeben wurden, die unterschiedlicher Art waren und die zeitlich weit auseinander lagen (hier: etwa zwei Jahre).

3. Durch den Asylsuchenden vorgelegte Kopien von Beweismitteln dürfen von den Behöden nicht mit dem allgemeinen Hinweis außer Acht gelassen werden, dass sie keinen Beweiswert hätten. Die Asylbehörden müssen die Authentizität vorgelegter Dokumente in geeigneter Weise überprüfen.

Schlagwörter: Iran, Glaubwürdigkeit, Glaubhaftmachung, Kopien, Beweislast, Beweismittel, begründete Zweifel, Widerspruch,
Normen: EMRK Art. 3, EMRK Art. 13
Auszüge:

Link zur Übersetzung:

Auszüge aus der inoffiziellen Übersetzung:

" [...] 55. In Hinblick auf die Beweislast für die Gefahr von Misshandlungen erkennt der Gerichtshof an, dass es aufgrund der besonderen Situation, in der sich Asylsuchende häufig befinden, regelmäßig notwendig ist, im Zweifelsfall zu ihren Gunsten zu entscheiden, wenn es um die Einschätzung der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen und der Dokumente geht, die sie zur Unterstützung ihrer Aussagen eingereicht haben. [...]

(b) Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall

56. Im vorliegenden Fall weist der Gerichtshof vorab darauf hin, dass der Beschwerdeführer in ein Land zurückgeführt werden soll, in dem die Menschenrechtslage in jeder Hinsicht Anlass für erhebliche Sorgen bietet. Es ergibt sich aus der aktuellen Informationslage zum Iran […], dass die iranischen Behörden Personen, die sich friedlich an oppositionellen oder menschenrechtlichen Aktivitäten beteiligen, häufig inhaftieren und misshandeln. Diese Situation hat sich seit den Demonstrationen im Anschluss an die Wahlen im Jahr 2009 nicht verbessert. […]

59. Bei der Bestimmung, ob der Beschwerdeführer ausreichende Nachweise erbracht hat, um zu belegen, dass er einer tatsächlichen Gefahr einer Behandlung ausgesetzt wäre, die Artikel 3 der Konvention zuwiederliefe, stimmt der Gerichtshof den nationalen Behörden zu, dss die Geschichte des Beschwerdeführers einige Schwächen aufweist. Dies gilt besonders für seinen Bericht über die Zustellung der ersten Vorladung und der Durchsuchung des Hauses seiner Eltern am 10. Mai 2011. Der Gerichtshof stimmt darüber hinaus den nationalen Behörden zu, dass die Abweichungen nicht mit der Behauptung des Beschwerdeführers erklärt werden können, wonach der Anhörer bei seiner zweiten Anhörung voreingenommen gewesen sei. Die Tatsache, dass ein neutraler Zeuge einer Nichtregierungsorganisation bei der Anhörung anwesend war und dass dieser Zeuge keinen Anlass sah, irgendwelche irregulären Verfahrensweisen im Protokoll der Anhörung festzuhalten, sind deutliche Hinweise, dass die Anhörung in fairer Weise durchgeführt wurde.

60. Der Gerichtshof weist aber darauf hin, dass die Glaubhaftigkeit der Berichte, die der Beschwerdeführer während der beiden Anhörungen vorgetragen hat, nicht isoliert bewertet werden darf, sondern unter Berücksichtigung der weiteren Erläuterungen des Beschwerdeführers beurteilt werden muss. Der Gerichtshof stimmt insoweit mit den Schweizerischen Behörden nicht überein, als diese davon ausgingen, dass diese Erläuterungen allgemein nicht ausreichend wären, um die Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Geschichte zu zerstreuen. Er stimmt dem Beschwerdeführer zu, dass die unterschiedliche Art der beiden Anhörungen nicht außer Acht gelassen werden kann, wenn es um die Einschätzung der Glaubhaftigkeit seiner Angaben geht. Aus den Anmerkungen des Anhörers im Protokoll der ersten Anhörung (»Aufgrund von Personalmangel wurden die Tatsachen unter Punkt 15 nicht im Detail ermittelt.«) geht hervor, dass der Beschwerdeführer in der ersten Anhörung nur oberflächlich befragt wurde und es von ihm erwartet wurde, dass er nur einen zusammenfassenden Bericht über die Ereignisse, die zu seiner Flucht aus dem Iran geführt haben, abgeben sollte. Die ins Detail gehenden Nachfragen zu bestimmten Punkten, die die Ereignisse im Iran betreffen, während der zweiten Anhörung, zeigen demgegenüber, dass vom Beschwerdeführer erwartet wurde, einen ausführlichen Bericht über die Ereignisse abzugeben. Dieser Unterschied kann einige der deutlichsten Abweichungen zwischen den beiden Schilderungen des Beschwerdeführers erklären. Diese müssen nicht notwendigerweise als wiedersprüchliche Angaben interpretiert werden, sondern können sich daraus ergeben haben, dass der Beschwerdeführer bei der ersten Anhörung einen verdichteten und verkürzten Bericht abgegeben hat. Dies trifft insbesondere darauf zu, dass der Beschwerdeführer die Hausdurchsuchung vom 10. Mai 2011 während der ersten Anhörung nicht erwähnt hat. Es tritt auch darauf zu, dass er bei der ersten Anhörung einfach ausgesagt hat, dass er sich vor seiner Ausreise aus dem Iran in der Wohnung seiner Schwester und in den Wohnungen von Freunden versteckt habe und erst bei der zweiten Anhörung erklärte, dass er sich tatsächlich bei seiner Schwester versteckt habe, aber in diesem Zeitraum auch Zeit mit Freunden verbracht habe.

61. Der Gerichtshof stimmt dem Beschwerdeführer weiterhin darin zu, dass die Tatsache, dass die erste Anhörung beinahe umittelbar nach seiner Ankunft in der Schweiz durchgeführt wurde während die zweite Anhörung etwa zwei Jahre nach seiner Ausreise aus dem Iran stattfand, zu einem gewissen Grad die Abweichungen zwischen den beiden Schilderungen des Beschwerdeführers erklären kann.

62. Darüber hinaus stimmt der Gerichtshof nicht mit der Schweizerischen Regierung überein, dass – nur weil einige der vorgelegten Dokumente Kopien waren und auf der Grundlage einer allgemeinen Annahme, dass derartige Dokumente im Iran theoretisch gekauft werden könnten – die Frage, ob der Beschwerdeführer belegen konnte, dass er Behandlung zu erwarten habe, die Artikel 3 der Konvention zuwiederliefe, nur auf der Basis der Schilderungen entschieden werden konnte, die er bei den beiden Anhörungen vortrug, ohne die zur Unterstützung seiner Angaben vorgelegten Dokumente beachten zu müssen. Diese Herangehensweise missachtet die spezielle Situation von Asylsuchenden und ihre besonderen Schwierigkeiten, einen vollumfänglichen Beweis für die Verfolgung in ihren Herkunftsstaaten vorzulegen (siehe oben, Rn.?55). Der Wahrheitsgehalt der Geschichte des Beschwerdeführers muss daher auch unter Berücksichtigung der vorgelegten Dokumente bewertet werden.

63. Es muss weiterhin festgehalten werden, dass die Verurteilung des Beschwerdeführer zu einer langen Haftstrafe und 70 Peitschenhieben für sich genommen nicht unglaubhaft ist. Wie zuvor gezeigt wurde (siehe Rn.?37) sind nicht nur Anführer politischer Organisationen oder andere prominente Personen der Gefahr der Inhaftierung und der Misshandlung oder Folter ausgesetzt, sondern beinahe jede Personen, die demonstriert oder sich auf irgendeine Weise gegen die gegenwärtige iranische Regime stellt. […]

64. Hinsichtlich der Frage, ob es sich bei der Vorladung vom 10. Mai 2011, bei der Kopie der Vorladung vom 5. Februar 2013 und bei der Kopie des Urteils vom 7. Mai 2013 um echte Dokumente beziehungsweise um Kopien echter Dokumente handelte, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass er über diese Frage nicht selbst entscheiden kann. Er vertritt allerdings die Auffassung, dass der Beschwerdeführer durch die Vorlage der fraglichen Dokumente alles getan hat, was von ihm in seiner Lage erwartet werden konnte, um zu beweisen, dass er wegen der Teilnahme an Demonstrationen im Iran, die gegen die Regierung gerichtet waren, verurteilt wurde. Demgegenüber haben die nationalen Behörden – also die Schweizerische Regierung – die Authentizität der Dokumente nicht substanziell in Frage gestellt.

65. […] Wie oben ausgeführt stimmt der Gerichtshof nicht mit der Auffassung überein, dass die Umstimmigkeiten in den Schilderungen des Beschwerdeführers so schwerwiegender Art gewesen wären, dass sie es gerechtfertigt hätten, die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente zu ignorieren. Er geht davon aus, dass sie [die Unstimmmigkeiten] tatsächlich durch die weiteren Erklärungen des Beschwerdeführers in erheblichem Maße ausgeräumt werden konnten. Da es keine Hinweise darauf gibt, dass die Regierung versucht hat, die Echtheit der Vorladungen mithilfe von Spezialisten oder der Schweizerischen Botschaft in Teheran zu überprüfen, hat die Regierung folglich die Authentizität der Dokumente nicht in geeigneter Weise infrage gestellt. Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass die Vorladung vom 10. Mai 2011 nicht in vernünftiger Weise außer Acht gelassen werden kann. […]

66. In Hinblick auf die Kopien der Vorladung vom 5. Februar 2013 und des Urteils vom 7. Mai 2013, stimmt der Gerichtshof der Regierung zu, dass die Vorlage von Originalen dieser Dokumente ohne Zweifel einen besseren Beweis zur Unterstützung der Sache des Beschwerdeführers dargestellt hätte. Es muss aber berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer vernünftige Erklärungen dazu abgegeben hat, warum er im Verfahren vor dem Bundesverwaltunsgericht nur Kopien vorgelegt hat und warum er zu diesem Zeitpunkt die Originale nicht vorlegen konnte. […]

67. Unabhängig davon haben weder das Bundesverwaltungsgericht noch die Schweizerische Regierung irgendwelche Gründe dafür angegeben, warum Kopien überhaupt nicht zugunsten des Beschwerdeführers berücksichtigt werden konnten. Die Regierung beanstandete lediglich, dass der Beschwerdeführer im Laufe des nationalen Verfahrens keine Erklärung dafür vorgelegt habe, wie er die Kopien erhalten habe und dass die Kopien keine Hinweise auf eine Übersendung per Fax enthielten. Der Gerichtshof stimmt mit der Regierung darin überein, dass derartige Erläuterungen hilfreich gewesen wären und zur Glaubhaftigkeit der Geschichte des Beschwerdeführers beigetragen hätten. Allerdings muss hervorgehoben werden, dass der Beschwerdeführer vom Bundesverwaltungsgericht nicht aufgefordert wurde, irgendwelche Informationen zur Herkunft der Kopien vorzulegen, weil dieses Gericht einfach feststellte, dass die vorgelegten Dokumente keinen Beweiswert hätten, weil sie Kopien seien. Es muss außerdem festgehalten werden, dass der Beschwerdeführer die Art und Weise, in der er die Kopien erhalten hat, im Verfahren vor dem Gerichtshof zufriedenstellend erklärt hat, indem er angab, dass er sie per E-Mail erhalten habe.

68. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass dem Beschwerdeführer zusätzliche Möglichkeiten genommen wurden, gegenüber den nationalen Behörden die Authentizität der zweiten Vorladung und des iranischen Urteils zu beweisen, da das Bundesverwaltungsgericht den Vorschlag des Beschwerdeführers ignorierte, die Glaubhaftigkeit der Dokumente weiter untersuchen zu lassen. […] Darüber hinaus hat die Regierung nicht auf die Mitteilung des Beschwerdeführers im Laufe des Austauschs der Äußerungen reagiert, wonach er sich nun im Besitz der Originale der Vorladung und des Urteils befinde und diese auf Wunsch der Regierung dem Bundesamt für Migration vorlegen könne. Damit wurde dem Beschwerdeführer eine weitere Möglichkeit genommen, zu beweisen, dass er tatsächlich vom iranischen Regime verfolgt werde.

69. Angesichts der oben beschriebenen Umstände kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer Nachweise erbracht hat, die für den Beweis geeignetsind, dass es schwerwiegende Gründe für die Annahme gibt, dass er im Fall einer Abschiebung einer tatsächlichen Gefahr eine Behandlung ausgesetzt wäre, die Artikel 3 der Konvention zuwiderliefe. Mit Blick auf die weiterhin bestehenden Unsicherheiten muss ihm gewährt werden, dass im Zweifel zu seinen Gunsten entschieden wird. Die Regierung hat demgegenüber nicht jedweden Zweifel ausgeräumt, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Abschiebung in den Iran einer Behandlung ausgesetzt wäre, die Artikel 3 zuwiderliefe. Dementsprechend stellt der Gerichtshof fest, dass die Durchsetzung der Abschiebungsanordnung gegen den Beschwerdeführer eine Verletzung von Artikel 3 der Konvention hervorrufen würde. [...]"