VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 15.07.2015 - 23 K 1005/14.A - asyl.net: M23137
https://www.asyl.net/rsdb/M23137
Leitsatz:

Im asylrechtlichen Verfahren eines nicht vorverfolgten und nicht erst in Deutschland konvertierten Schutzsuchenden, der in Anbetracht seiner Religion befürchtet, bei Rückkehr ins Heimatland Verfolgung zu erleiden, obliegt es diesem, von sich aus den Zusammenhang Vorstellungen, Entscheidungen und Erfahrungen, von seiner Lebensführung und ihrer Bedeutung für ihn, von einer etwaigen Rolle und Aktivität innerhalb einer Religionsgemeinschaft sowie von wahrscheinlichen Auswirkungen von Einschränkungen auf ihn zu überzeugen.

Eine echte und richtige Mitgliedsbescheinigung bestätigt lediglich die formelle Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Religionsgemeinschaft, kann aber nicht die innere Tatsache einer religiösen Identität nachweisen. Wird eine solche Bescheinigung allerdings nicht vorgelegt, so wirft dies Zweifel an einer religiösen Identität auf, die der Asylsuchende entkräften muss.

Mit Blick auf die für die religiöse Identität wesentlichen Merkmale der Konstanz, der Kontinuität und der Kohärenz ist im asylrechtlichen Verfahren eines nicht vorverfolgten und nicht erst in Deutschland konvertierten Schutzsuchenden von maßgeblicher Bedeutung, welche Rolle die Religion für ihn in seinem Heimatland gespielt hat. Lässt sich unter Berücksichtigung der äußeren Umstände im Herkunftsland und des dynamischen Charakters von Identität nicht nachvollziehen, warum er religiöse Aktivitäten in Deutschland aufgenommen oder intensiviert hat, so ist für die gerichtliche Entscheidung in der Regel davon auszugehen, dass dies aus Opportunitätserwägungen geschehen ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ahmadiyya, subjektive Nachfluchtgründe, religiöse Identität, religiöses Existenzminimum, Pakistan, Glaubhaftmachung, Glaubwürdigkeit, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 3, AsylVfG § 3a Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Grundsätzen steht weder zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger konkrete Verfolgungshandlungen in Pakistan erlitten hat, die im Zusammenhang mit seiner Religion standen, noch, dass er eine religiös geprägte Persönlichkeit ist, die aufgrund ihrer individuellen Lage begründete Furcht haben muss, Verfolgungshandlungen in Pakistan zu erleiden.

Das Gericht glaubt dem Kläger nicht, dass er vorverfolgt aus Pakistan ausgereist ist, weil sein diesbezüglicher Vortrag bei seiner Anhörung durch das Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung nicht stimmig, detailliert und lebensnah war. Sein Vortrag zu dem angeblichen Angriff im Juni 2013 blieb vor dem Bundesamt und vor dem Gericht auch auf Nachfragen oberflächlich. Ebenso vage blieb seine Behauptung, telefonisch bedroht worden zu sein. Dies gilt auch für seine Aussage in der mündlichen Verhandlung, dass die Feindschaft gegen ihn sehr groß geworden sei, womit er u.a. begründete, dass er und nicht sein Bruder ausgereist sei. Auf entsprechende Bitte des Gerichts konnte er diese angeblich immer größer werdende Feindschaft gegen ihn nicht erläutern. Stattdessen verwies er ausweichend auf das, was man den Ahmadis angetan habe. Zudem erklärte er, sein Bruder habe nicht ausreisen können, weil dafür keine Mittel vorhanden gewesen seien. Er konnte dies jedoch auf Vorhalt nicht mit seinen Einlassungen vor dem Bundesamt überzeugend in Einklang bringen. Dort hatte er behauptet, sein Bruder habe ihm 600.000 Rupien für die Ausreise zur Verfügung gestellt. Seine Erklärung in der mündlichen Verhandlung, sein Bruder habe sich dieses Geld bei anderen geliehen und ihm gegeben, überzeugt nicht, weil es einerseits eine wesentliche und auch für den Kläger als Empfänger des Geldes bedeutsame Abweichung gegenüber seinem Vortrag beim Bundesamt darstellt und weil andererseits unklar bleibt, warum der Bruder sich nicht Geld für seine eigene Ausreise hätte leihen können. Genauso wenig konnte der Kläger in der mündlichen Verhandlung plausibel erklären, warum gerade er von religiösen Gegnern verfolgt worden sei: Irgendwie sei er zur Zielscheibe geworden. Sein Vortrag war auch insoweit unstimmig, als er vor dem Bundesamt berichtet hat, nach dem angeblichen Angriff im Juni 2013 habe er sich in seiner Wohnung eingeschlossen und zweieinhalb Monate die Wohnung nicht verlassen. Dies hat er in der mündlichen Verhandlung zunächst bestätigt. Auf weitere Nachfrage sagte er, die zwei bis drei Monate bis zu seiner Ausreise sei er weithin zu Hause geblieben und sein Bruder habe die Ausreise organisiert. Auf nochmalige Nachfrage ergänzte er, dass während dieser Zeit einmal Unbekannte unterwegs versucht hätten, ihn zu stoppen, es sei ihm aber gelungen, zu fliehen. Es verwundert, dass er solch ein gefährliches Ereignis nicht schon beim Bundesamt und früher in der mündlichen Verhandlung erzählt hat. Zum Ende der mündlichen Verhandlung antwortete er auf die Frage, wann er das letzte Mal in Pakistan in einer Moschee gewesen sei, dass er ungefähr eine Woche vor der Ausreise zum Freitagsgebet in der Moschee gewesen sei. Er hätte in den letzten zwei bis drei Monaten in Pakistan sein Haus kaum noch verlassen; nur noch zum Freitagsgebet sei er in die Moschee gegangen. Wenn es sich beim Freitagsgebet in der Moschee um eine derart regelmäßige Ausnahme von seinem Rückzug ins eigene Haus gehandelt haben soll, so bleibt unverständlich, warum der Kläger dies nicht bei der Schilderung seiner Reaktion auf die angebliche Verfolgung mitgeteilt, sondern erst auf entsprechende Frage nachgeschoben hat. Das Gericht ist nicht zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger von selbst Erlebtem berichtet hat, und erachtet ihn daher nicht als glaubwürdig.

Für den ohne Vorverfolgung ausgereisten Kläger ist auch nicht in Anbetracht seiner individuellen Lage anzunehmen, dass ihm für den Fall einer Rückkehr nach Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus religiösen Gründen droht.

Zwar ist davon auszugehen, dass Ahmadis, die ihren Glauben öffentlich wahrnehmbar leben, in Pakistan einer aktuellen Gefahr der Verfolgung in ihrer Religionsfreiheit ausgesetzt sind, die sich aus einer landesweit geltenden, speziell gegen die Ahmadis und gegen den Kern ihres Selbstverständnisses gerichteten Gesetzgebung ergibt (vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 14.12.2010, a.a.O., Rz. 56 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.06.2013 – A 11 S 757/13 –, juris, Rz. 57 ff.; VG Köln, Urteil vom 13.12.2013 – 23 K 2414/13.A –, juris, Rz. 43 - 77 m.w.N.).

Der Kläger hat das Gericht nach seinem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung jedoch nicht davon überzeugen können, dass er bei einer zur Wahrung seiner religiösen Identität erforderlichen Lebensführung in Pakistan der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt wäre. Die Unglaubwürdigkeit des Klägers hinsichtlich der behaupteten Vorverfolgung begründet auch Zweifel an einer derart geprägten religiösen Identität, die im Verlauf der mündlichen Verhandlung bestätigt wurden. Er hat nicht von sich aus auf konkrete, persönliche und authentische Art und Weise einen hinreichend engen Zusammenhang zwischen seinem Glauben und seinem Leben aufgezeigt, der für ihn in seinem Herkunftsland eine tatsächliche Verfolgungsgefahr bedeuten würde. Insoweit hat er typische öffentlich bemerkbare Verhaltensweisen wie z.B. Moscheebesuche oder den Verzicht darauf und etwaige damit jeweils verbundene innere Belastungen weder beim Bundesamt noch in der mündlichen Verhandlung von sich aus, sondern nur auf bestimmte Fragen hin geschildert. Es ist nicht deutlich geworden, dass die eingeschränkte Möglichkeit der öffentlichen Ausübung der Religion den Kläger in einen erheblichen inneren Konflikt geführt hat, weil es nach seiner religiösen Grundeinstellung geboten gewesen wäre, den Glauben öffentlich wahrnehmbar zu leben. Wäre ihm dies ein wirkliches inneres Bedürfnis gewesen, so hätte er das bereits zuvor von sich aus gesagt. Denn dann wäre dies der zentrale Grund seiner Ausreise gewesen. Augenscheinlich hat der Kläger sich auch nicht von sich aus während der Zeit in Lahore in der dortigen Gemeinde engagiert – jedenfalls hat er hierzu nichts vorgetragen. Die Bedeutung des Glaubens für ihn persönlich sowie seine religiösen Vorstellungen und Überzeugungen wurden auch unter Berücksichtigung seines Bildungsstandes nicht anschaulich und konkret. Eine wirkliche innere Hinwendung zum Glauben und eine Selbstverpflichtung zu bestimmten religiösen Handlungen hat der Kläger für das Gericht nicht deutlich machen können. Die verschiedenen vom Kläger vorgelegten Dokumente zu seinen religiösen Aktivitäten in Deutschland lassen angesichts seines weder authentischen noch nachvollziehbaren Vortrags zu seinem Glauben und seinem Leben in Pakistan nicht den Schluss auf eine religiös geprägte Persönlichkeit zu, für die die Befolgung bestimmter Praktiken in der Öffentlichkeit zur Wahrung ihrer religiösen Identität besonders wichtig ist. Daran haben auch die wenig aussagekräftigen Antworten des Klägers auf die teilweise suggestiven Fragen seines Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung nichts geändert. Das Gericht geht zwar davon aus, dass der Kläger Mitglied der Ahmadiyya-Gemeinschaft ist, obwohl die Mitgliedschaft durch die Bescheinigung der AMJ letztlich nicht nachgewiesen wird, weil die Identität des Klägers mangels Ausweispapieren unklar ist. Ebenso geht das Gericht davon aus, dass er in Deutschland regelmäßig an den religiösen Veranstaltungen und Aktivitäten der AMJ teilnimmt. Dass die Art und Weise der hiesigen Religionsausübung für ihn verbindlich ist, hat er jedoch nicht dargelegt und schon gar nicht das Gericht davon überzeugt. Daher ist davon auszugehen, dass er seine religiösen Aktivitäten hier aus Opportunitätserwägungen aufgenommen oder jedenfalls intensiviert hat. [...]