VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 04.09.2015 - 4 L 810/15.A (= ASYLMAGAZIN 10/2015, S. 344 f.) - asyl.net: M23165
https://www.asyl.net/rsdb/M23165
Leitsatz:

Es besteht Anlass zu der Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass dem Antragsteller unter den aktuellen (tatsächlichen und rechtlichen) Verhältnissen in Ungarn bei der Rückführung mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.

Schlagwörter: Ungarn, systemische Mängel, sichere Drittstaaten, Asylverfahren und Aufnahmebedingungen, Dublin II-VO,
Normen: AsylVfG § 34a,
Auszüge:

[...]

Angesichts der sich in den vergangenen Tagen und Wochen dramatisch zuspitzenden Entwicklungen hat sich der zur Entscheidung berufene Einzelrichter - unter Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung - nicht mehr die Überzeugungsgewissheit verschaffen können, dass das Asylverfahren in Ungarn frei von systemischen Mängeln ist. Der Antragsteller hat daher einen Anspruch auf einen Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland in die Prüfung seines Asylantrages (allgemein hierzu vgl. Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 14. November 2013 - Rs. C-4/11 -, NVwZ 2014, 129).

Maßgeblich für diese Einschätzung sind zum einen die von niemandem mehr ernsthaft bestrittenen erheblichen Kapazitätsprobleme, die zwar - soweit ersichtlich - derzeit eine Reihe von europäischen Staaten, auch die Bundesrepublik Deutschland betreffen, in Ungarn aber wohl weit massiver sind (so auch Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 12. August 2015 - 3 L 776/15 -; Verwaltungsgericht Kassel, Beschluss vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -; Verwaltungsgericht Münster, Beschluss vom 7. Juli 2015 - 2 L 858/15.A -). Hinzu kommt, dass die ungarische Regierung am 6. Juli 2015 eine Änderung des Asylrechts beschlossen hat, die am 1. August 2015 in Kraft getreten ist. Diese soll nicht nur eine erhebliche Verfahrensverkürzung auf wenige Tage unter Wegfall bzw. massiver Einschränkung der gebotenen Rechtsschutzmöglichkeiten sowie eine Verlängerung der Inhaftierung aller Asyl- bzw. Flüchtlingsschutzsuchenden, die in das Land illegal eingereist sind, einschließlich Frauen, Kinder und besonders Schutzbedürftiger, vorsehen. Sondern Asylsuchenden kann nach den gegenwärtigen Erkenntnissen des Gerichts infolge der Gesetzesänderung der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt werden, sollten sie durch eines der Länder eingereist sein, das die ungarische Behörden nun als "sicher" eingestuft haben. Jeder, der auf dem Weg nach Ungarn durch eines dieser Länder gereist ist, könnte ungeachtet des jeweiligen Herkunftslandes abgewiesen werden. Zu einer ganzen Reihe neuer Ablehnungsgründe zählt daher offenbar auch die Möglichkeit, die Anträge von Asyl- und Flüchtlingsschutzsuchenden, die durch

"sichere Drittländer" gekommen sind, für unzulässig zu erklären und diese in "sichere Drittstaaten" zurückzuführen. Auf der von der ungarischen Regierung erstellten Liste soll unter den Begriff "sichere Drittstaaten" neben Serbien, Albanien, Mazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und Kosovo auch Griechenland fallen. Es kann daher derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass auch der Antragsteller bei einer Rückführung nach Ungarn von dem Risiko der Abschiebung nach Griechenland bedroht ist, ohne dass eine den europäischen Mindestanforderungen genügende Prüfung seiner Schutzbedürftigkeit erfolgen würde. Dies würde eine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention bedeuten (so auch Verwaltungsgericht Kassel, Beschluss vom 7. August 2015, a.a.O., m.w.N.). Vor diesem Hintergrund hat sich auch der UNHCR zutiefst besorgt darüber gezeigt, dass die vorgeschlagene Änderung des Asylrechts die Rücksendung von Asylbewerbern in potentiell unsichere Drittstaaten ermögliche (UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste, www.ecoi.net/local_link/307005/444377_de.html). Nicht unberücksichtigt bleiben können schließlich die Aktionen und Äußerungen der rechtsnationalen Regierung Ungarns der vergangenen Tage, die zur Überzeugung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters ein Klima schaffen, das die ohnehin kaum noch tragbare Lage der Flüchtlinge in Ungarn weiter drastisch verschärfen wird (so schon Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 12. August 2015, a.a.O.).

Mit Blick darauf besteht - unter Änderung der bisherigen Rechtsprechung - Anlass zu der Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dem Antragsteller drohe unter den aktuellen (tatsächlichen und rechtlichen) Verhältnissen in Ungarn bei einer Rückführung mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Daher ist im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. [...]