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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 16.09.2015 - V ZB 40/15 - asyl.net: M23344
https://www.asyl.net/rsdb/M23344
Leitsatz:

Steht - gegebenenfalls nach einer Auslegung der vom Amtsgericht in einer Abschiebehaftsache getroffenen Entscheidung - fest, ob im Hauptsacheverfahren (§ 417 ff. FamFG) oder im einstweiligen Anordnungsverfahren (§ 427 FamFG) entschieden worden ist, wird hierdurch auch der Gegenstand eines sich anschließenden Rechtsmittelverfahrens festgelegt.

Das Beschwerdegericht ist nicht befugt, eine tatsächlich im Hauptsacheverfahren ergangene Entscheidung des Amtsgerichts nachträglich als eine einstweilige Anordnung oder einen im Wege der einstweiligen Anordnung getroffenen Beschluss nachträglich als Hauptsachentscheidung anzusehen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Sicherungshaft, Abschiebungshaft, einstweilige Anordnung, Freiheitsentziehung, vorläufige Freiheitsentziehung, Hauptsacheverfahren, Haftantrag,
Normen: FamFG § 70 Abs. 3 S. 1 Nr. 3, FamFG § 70 Abs. 3 S. 2, FamFG § 51 Abs. 3 S. 1, FamFG § 427,
Auszüge:

[...]

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch in der Sache begründet. Das Beschwerdegericht hat eine Entscheidung in der Hauptsache getroffen, obwohl Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ausschließlich ein im Wege der einstweiligen Anordnung ergangener Beschluss des Amtsgerichts war.

a) Die Verfahren über einstweilige Anordnungen (§§ 49 ff. FamFG) sind nach § 51 Abs. 3 Satz 1 FamFG selbständige, von der Hauptsache unabhängige Verfahren. Der Gesetzgeber des FGG-Reformgesetzes hat sich dafür entschieden, die Hauptsacheabhängigkeit der Verfahren über einstweilige Anordnungen zu beseitigen und diese - wie die Verfahren über den Arrest und die einstweilige Verfügung nach §§ 916 ff. ZPO - von den Hauptsacheverfahren zu trennen (BT-Drucks. 16/6308 S. 199). Diesen Grundsatz hat er auch für vorläufige Freiheitsentziehungen nach § 427 FamFG übernommen (BT-Drucks. 16/6308 S. 293). Die verfahrensrechtlichen Anforderungen für einstweilige Anordnungen nach § 427 FamFG unterscheiden sich von denen für freiheitsentziehende Beschlüsse in der Hauptsache nach § 422 FamFG. Deshalb kann eine Freiheitsentziehung als vorläufige Anordnung nach § 427 FamFG rechtmäßig, als Beschluss in der Hauptsache nach § 422 FamFG jedoch rechtswidrig sein (vgl. Senat, Beschlüsse vom 31. Mai 2012 - V ZB 167/11, NJW 2012, 2448 Rn. 10 und vom 18. Dezember 2014 - V ZB 114/13, FGPrax 2015, 91 Rn. 13). Umgekehrt kann eine Freiheitsentziehung als Beschluss in der Hauptsache rechtmäßig sein, mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 427 FamFG jedoch als vorläufige Anordnung rechtswidrig sein. Die hiernach gebotene Unterscheidung zwischen dem Verfahren auf Erlass einer vorläufigen Anordnung und dem Beschluss in der Hauptsache hat zur Folge, dass der Antrag einer Behörde auf eine vorläufige Freiheitsentziehung im Wege einstweiliger Anordnung keine Grundlage für den Erlass einer Haftanordnung im Hauptsacheverfahren ist (vgl. Senat, Beschluss vom 18. Dezember 2014 - V ZB 114/13, FGPrax 2015, 91 Rn. 11, 13).

b) Wenn eine Behörde - wie hier in Gestalt eines Haupt- und Hilfsantrages - sowohl eine Entscheidung in der Hauptsache als auch eine vorläufige Freiheitsentziehung im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 427 FamFG beantragt, kann sich die Frage stellen, ob die auf einen solchen Antrag ausgesprochene Haftanordnung im Wege der einstweiligen Anordnung oder im Hauptsacheverfahren ergangen ist. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Haftanordnung im Hauptsacheverfahren können insbesondere das Fehlen von Feststellungen zur Notwendigkeit einer einstweiligen Anordnung, eine abschließende, nicht nur vorläufige Feststellung der Haftgründe, die Überschreitung der für einstweilige Haftanordnungen geltenden Höchstdauer von sechs Wochen und die Rechtsmittelbelehrung sein (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 18. Dezember 2014 - V ZB 114/13, FGPrax 2015, 91 Rn. 7).

c) Steht - gegebenenfalls nach einer Auslegung der vom Amtsgericht getroffenen Entscheidung - fest, ob im Hauptsacheverfahren oder im einstweiligen Anordnungsverfahren entschieden worden ist, wird hierdurch auch der Gegenstand eines sich anschließenden Rechtsmittelverfahrens festgelegt. Das Beschwerdegericht ist nicht befugt, eine tatsächlich im Hauptsacheverfahren ergangene Entscheidung des Amtsgerichts nachträglich als eine einstweilige Anordnung oder einen im Wege der einstweiligen Anordnung getroffenen Beschluss nachträglich als Hauptsachentscheidung anzusehen. Durch einen solchen Wechsel von der einen in die andere Verfahrensart würde die vom Gesetzgeber angeordnete Unterscheidung von Hauptsacheverfahren und einstweiligen Anordnungsverfahren, für die jeweils unterschiedliche Voraussetzungen gelten, missachtet. Zudem würde auch die Regelung des § 70 Abs. 4 FamFG unterlaufen. Hierin hat der Gesetzgeber eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass einstweilige Anordnungen - im Unterschied zu den Hauptsachentscheidungen - keiner rechtlichen Überprüfung im Rechtsbeschwerdeverfahren unterworfen sein sollen. Vielmehr endet der Rechtsmittelzug in diesen Verfahren beim Beschwerdegericht, das auch die Voraussetzungen für das Vorliegen einer einstweiligen Anordnung zu überprüfen hat.

d) Vorliegend war für die von dem Beschwerdegericht vorgenommene "Klarstellung", dass es sich bei dem Beschluss des Amtsgerichts vom 15. Februar 2015 um eine endgültige Entscheidung im Sinne des § 417 ff. FamFG handele, kein Raum. Aus dem Tenor und den Beschlussgründen ergibt sich eindeutig, dass das Amtsgericht die Entscheidung nicht versehentlich als einstweilige Anordnung bezeichnet hat, sondern eine solche tatsächlich auch erlassen wollte. Hierin fügt sich, dass in der Rechtsmittelbelehrung die für Beschwerden gegen einstweilige Anordnungen geltende Beschwerdefrist von zwei Wochen (§ 63 Abs. 2 Nr. 1 FamFG) angegeben wird. Die Frist zur Einlegung einer Beschwerde gegen eine Hauptsachentscheidung beträgt demgegenüber einen Monat (§ 63 Abs. 1 FamFG). Auch die Beteiligten haben den Beschluss, den der Betroffene mit der Beschwerde angegriffen hat, nicht als Entscheidung in der Hauptsache verstanden. Da hiernach Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ausschließlich eine einstweilige Anordnung war, durfte das Beschwerdegericht keine Entscheidung in der Hauptsache treffen.

3. Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif und daher nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen. Eine eigene Entscheidung des Senats ist bereits deshalb ausgeschlossen, weil es um die Rechtmäßigkeit einer im einstweiligen Anordnungsverfahren ergangenen Entscheidung des Amtsgerichts geht und in diesem Verfahren eine Rechtsbeschwerde gemäß § 70 Abs. 4 FamFG nicht vorgesehen ist. Über den im Rechtsbeschwerdeverfahren gestellten Antrag festzustellen, dass der Beschluss des Amtsgerichts vom 15. Februar 2015 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat, hat deshalb abschließend das Beschwerdegericht zu befinden. Wie es selbst - wenn auch im Zusammenhang mit der von ihm vorgenommenen Klarstellung des Beschlusses des Amtsgerichts - ausführt, hat das Amtsgericht keine Feststellungen dazu getroffen, warum anstelle einer endgültigen Entscheidung eine einstweilige Anordnung nach § 427 FamFG ergehen musste. [...]