SG Osnabrück

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Zitieren als:
SG Osnabrück, Urteil vom 10.05.2016 - S 33 AS 470/13 - asyl.net: M23837
https://www.asyl.net/rsdb/M23837
Leitsatz:

1. Eine selbständige Erwerbstätigkeit mit einem durchschnittlichen monatlichen Einkommen von 200,00 Euro ist keine völlig untergeordnete und unwesentliche Beschäftigung (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R - juris). Es besteht daher eine Anknüpfung zum deutschen Arbeitsmarkt.

2. Dem steht nicht entgegen, dass ein (verwandschaftliches) Näheverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber besteht und die Dienstleistung sehr haushaltsnah erbracht wird (hier Pflege des Vaters).

3. Die Anknüpfung zum deutschen Arbeitsmarkt besteht auch dann, wenn die geringfügige Beschäftigung durch den Arbeitgeber entgegen der Anmeldepflicht nicht angemeldet wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsbürger, geringfügige Beschäftigung, Anmeldung, Pflege von Familienangehörigen, selbständige Erwerbstätigkeit, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Arbeitnehmer, Arbeitnehmerbegriff, Festigung des Aufenthalts
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, SGB XII § 23 Abs. 1 S. 3,
Auszüge:

[...]

1. Der Kläger hat Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Zeitraum Dezember 2012 bis einschließlich Dezember 2013. Er unterliegt nicht dem Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II. Das Aufenthaltsrecht des Klägers ergibt sich nicht alleine aus dem Zweck der Arbeitssuche. Der Kläger ist als Arbeitnehmer anzusehen.

Gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sind ausgenommen von den Leistungen nach dem SGB II Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Anspruch auf aufstockende SGB II-Leistungen haben jedoch Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die sich als Arbeitnehmer einschließlich geringfügig Beschäftigter oder Selbstständige in Deutschland aufhalten (Radüge in JurisPK SGB II, Stand: 14.03.2016, § 7, Rd.-Nr. 95). Als Arbeitnehmer sind diejenigen Personen anzusehen, die eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausüben mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R, Rd.-Nr. 18, zitiert nach Juris). Nach Überzeugung der Kammer sind das Einkommen und damit auch die Tätigkeit des Klägers zwar nicht bedarfsdeckend, jedoch nicht völlig untergeordnet und unwesentlich. Der Kläger pflegte im streitbefangenen Zeitraum seinen Vater und erhielt dafür eine Vergütung in Höhe von 200,00 Euro monatlich. Nach Auffassung der Kammer ist zumindest bei einem Einkommen von 200,00 Euro monatlich nicht mehr von einer völlig untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeit auszugehen. Bei einem Einkommen von 200,00 Euro monatlich verbliebe es bei einem anrechenbaren Einkommen in Höhe von 80,00 Euro monatlich. Damit konnte der Kläger zumindest teilweise seinen Lebensunterhalt selbst durch Erwerbstätigkeit bestreiten.

Dem steht ebenfalls nicht entgegen, dass hier ein Näheverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber besteht. Das Verwandtschaftsverhältnis steht einem Arbeitsverhältnis nicht entgegen. Dem Kläger war es möglich, mit seinem Vater einen Arbeitsvertrag zu schließen. Die Kammer verkennt nicht, dass die Dienstleistung sehr haushaltsnah erbracht worden ist. Auch dies steht jedoch der Arbeitnehmertätigkeit nach Auffassung der Kammer nicht entgegen. Der Vater des Klägers hätte auch eine fremde Person als Helfer in der Pflege beschäftigen können.

Die Tatsache, dass der Vater des Klägers die Tätigkeit nie als geringfügige Beschäftigung angemeldet hat, steht der Arbeitnehmereigenschaft des Klägers nicht entgegen. Die Tatsache, ob der Arbeitgeber eine Beschäftigung ordnungsgemäß anmeldet und ggfls. Sozialversicherungsbeiträge abführt, kann dem Arbeitnehmer nicht zu Lasten gelegt werden. Der Arbeitnehmer hat regelmäßig keinen Einfluss auf das entsprechende Verhalten des Arbeitgebers. Insbesondere kann der Arbeitnehmer die Anmeldung nicht selbstständig durchführen. Auch eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit wird nicht deswegen zu keiner Erwerbstätigkeit, weil der Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge nicht ordnungsgemäß abführt.

Trotz des Versterbens des Vaters des Klägers im November 2013 und dem damit entfallenden Einkommen im Monat Dezember 2013 kann sich der Kläger im Monat Dezember 2013 nach Überzeugung der Kammer weiterhin auf die Arbeitnehmereigenschaft berufen. Gemäß § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) bleibt das Recht nach Abs. 1 der genannten Vorschrift für Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätige unberührt bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit in Folge von Umständen, auf die der Selbstständige keinen Einfluss hatte. Die Arbeitslosigkeit nach dem Versterben des Vaters des Klägers ist für den Kläger unfreiwillig. Hätte der Vater weiter gelebt, hätte der Kläger für diesen weiter gearbeitet.

Der Kläger hat folglich im genannten Zeitraum dem Grunde nach Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II unter Berücksichtigung von Einkommen. Das Gericht konnte gemäß § 130 Abs. 1 S. 1 dem Grunde nach zur Leistung verurteilen, da ein Rechtsanspruch auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes besteht.

2. In den Monaten Oktober und November 2012 hat der Kläger Anspruch auf Leistungen des 3. Kapitels des SGB XII. In diesem Zeitraum greift der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, da der Kläger sich in diesem Zeitraum nicht auf den Status eines Arbeitnehmers berufen kann.

Nach § 19 Abs. 1 SGB XII ist Personen Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten können. Dies war beim Kläger im Zeitraum Oktober und November 2012 der Fall. In diesem Zeitraum verfügte er über keinerlei Einkommen. Der Beklagte hatte als Optionskommune ebenfalls Kenntnis ab Oktober 2012 über die Hilfebedürftigkeit des Klägers. Das Schreiben, das bei der Gemeinde A-Stadt am 29. Oktober 2012 einging, verdeutlicht, dass der Kläger bedürftig im Sinne des Gesetzes gewesen ist. Der Beklagte hat folglich ab diesem Zeitpunkt Kenntnis. Darüber hinaus ist das Schreiben aus Oktober 2012 auch als Antrag auf Leistungen der Grundsicherung jeglicher Art bzw. auch der Hilfe zum Lebensunterhalt zu sehen.

Der Kläger war nicht nach § 21 S. 1 SGB XII von der Hilfe zum Lebensunterhalt ausgeschlossen. § 21 S. 1 SGB XII bestimmt, dass Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten. Der Kläger war in den Monaten Oktober und November 2012 nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II, da er den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II unterfiel.

Der Kläger hatte Anspruch auf Ermessensleistungen nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII. Nach dieser Vorschrift kann Sozialhilfe geleistet werden, wenn dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Das Ermessen des Sozialhilfeträgers ist in einem Fall, in dem sich der Aufenthalt verfestigt hat, auf Null reduziert. Die Verfestigung des Aufenthaltes ist regelmäßig ab einem 6-monatigem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland anzunehmen (BSG, Urteil vom 03. Dezember 2015, B 4 AS 44/15 R, Rd.-Nr. 53, zitiert nach Juris). Im Monat Oktober 2012 war der Kläger bereits seit fast zwei Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhältig. Das Ermessen in Bezug auf die Gewährung der Leistungen der Sozialhilfe war folglich auf Null reduziert. Der Beklagte war zur Leistung nach dem SGB XII in den beiden Monaten zu verurteilen. [...]