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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 27.04.2016 - 1 C 22.15 (= ASYLMAGAZIN 8/2016, S. 266 ff.) - asyl.net: M23936
https://www.asyl.net/rsdb/M23936
Leitsatz:

Vorlage an den EuGH zur Auslegung der Dublin III-VO bei Wiedereinreise nach Überstellung:

"Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung der Frage, ob auf einen Asylbewerber nach der im Anschluss an eine Überstellung erfolgten illegalen Wiedereinreise die Regelungen der Dublin III-VO mit der Obliegenheit zur Stellung eines (Wieder-)Aufnahmegesuchs und der Möglichkeit eines Zuständigkeitsübergangs anwendbar sind."

(Amtlicher Leitsatz; EuGH: laufende Rechtssache C-360/16 – Hasan gg. Deutschland)

Schlagwörter: Dublinverfahren, subjektives Recht, Vorlagebeschluss, Vorabentscheidungsersuchen, Aufnahmegesuch, Asylantrag, Dublin III-Verordnung, illegale Wiedereinreise, Aufnahmeersuchen, Wiederaufnahmegesuch, Überstellung, Zuständigkeit, Zuständigkeitsübergang, Hasan,
Normen: AEUV Art. 267, AsylG § 27a, AsylG § 34a, AsylG § 34a Abs. 1, AsylG § 34a Abs. 2, AsylG 3 77 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 3, VO 604/2013 Art. 7 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 7 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 13 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 21, VO 604/2013 Art. 23, VO 604/2013 Art. 24, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2, Art. 49 Abs. 2 S. 1, VO 604/2013 Art. 29, VO 604/2013 Art. 49, RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 2 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

14 b) Auf der Grundlage der für das vorliegende Gericht bindenden Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts kann nicht abschließend beurteilt werden, ob Italien nach Maßgabe der Dublin III-VO originär für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig ist und sich deshalb die durch das Bundesamt getroffenen Entscheidungen als rechtmäßig erweisen. [...]

16 Auf der Grundlage dieser unionsrechtlichen Vorgaben ist das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend von einer originären Zuständigkeit Italiens ausgegangen. Diese ergibt sich hier in Ermangelung vorrangiger Regelungen aus Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO. Danach ist ein Mitgliedstaat für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig, wenn auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Art. 22 Abs. 3 Dublin III-VO genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2013, festgestellt wird, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaates illegal überschritten hat; die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Hierzu hat das Berufungsgericht für das Revisionsgericht bindend festgestellt (§ 137 Abs. 2 VwGO), dass der Kläger von Libyen aus die Seegrenze Italiens am 29. August 2014 illegal überschritten hat. Die damit in Lauf gesetzte Frist von zwölf Monaten war zum Zeitpunkt der Stellung des ersten Antrags auf internationalen Schutz in Italien auch noch nicht verstrichen. Denn nach den wiederum bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Kläger am 4. September 2014 in Italien den ersten Asylantrag gestellt.

17 Die originäre Zuständigkeit Italiens kann jedoch durch den Senat nicht abschließend beurteilt werden. Denn das Berufungsgericht hat - von seinem rechtlichen Standpunkt aus konsequent - keine Tatsachenfeststellungen dazu getroffen, ob das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO aufweisen, so dass Italien gegebenenfalls bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO außer Betracht zu lassen wäre. Der Kläger hat sich in den Vorinstanzen substantiiert auf systemische Defizite in Italien berufen, so dass diesem Einwand von Amts wegen nachzugehen ist. Sind nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO hinsichtlich Italiens zumindest nicht ausgeschlossen, kommt in Ermangelung jeglicher Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines dritten Mitgliedstaates auch eine Zuständigkeit Deutschlands über die Auffangregelung in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO in Betracht.

18 c) Die Frage, ob nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO Italien oder Deutschland zuständig ist, kann entgegen der Annahme des Berufungsgerichts nicht deshalb offenbleiben, weil Deutschland jedenfalls nachträglich gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO zuständig geworden ist. Denn der Kläger ist bei richtiger Berechnung der Überstellungsfrist fristgemäß nach Italien überstellt worden.

19 Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO bestimmt, dass der originär zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur (Wieder-) Aufnahme verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO durchgeführt wird. Nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ist eine Überstellung durchzuführen, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des (Wieder)Aufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat (erste Variante) oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat (zweite Variante). Bei dem nach der zweiten Variante maßgeblichen Tatbestandsmerkmal der "aufschiebenden Wirkung" handelt es sich um einen unionsrechtlichen Begriff, der durch den Verweis auf Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO alle Fälle erfasst, in denen eine Überstellungsentscheidung im Rahmen der den Mitgliedstaaten in Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO eingeräumten Möglichkeiten zur Ausgestaltung eines wirksamen Rechtsbehelfs nicht vollzogen werden darf. Denn wie sich aus der zu Art. 20 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung (EG) 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (Dublin II-VO) ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, ist bei der Auslegung der Dublin-Bestimmungen zum einen die Effektivität des von den Mitgliedstaaten gewährleisteten gerichtlichen Rechtsschutzes zu wahren und der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten zu respektieren. Zum anderen ist sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten auch bei der zweiten Variante die volle Frist zur Bewerkstelligung der Überstellung nutzen können. Die Frist beginnt bei der zweiten Variante daher erst zu laufen, wenn sichergestellt ist, dass die Überstellung in Zukunft erfolgen wird und lediglich deren Modalitäten zu regeln bleiben, d.h. ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die der Durchführung nicht mehr entgegenstehen kann (EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 - C-19/08 [ECLI:EU:C:2009:41], Petrosian - Rn. 43 ff.).

20 Daraus folgt, dass die Überstellungsfrist grundsätzlich mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch den anderen Mitgliedstaat anläuft. Die zweite Variante greift erst dann, wenn eine Überstellungsentscheidung erlassen wurde und wegen eines in Umsetzung der Vorgaben des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO eingelegten Rechtsbehelfs nicht vollzogen werden kann. Dies ist nach nationalem Recht der Fall, wenn der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht Klage gegen die Abschiebungsanordnung erhoben und innerhalb der Frist von einer Woche gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragt hat. Denn nach § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG ist eine Abschiebung bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung über den Antrag unabhängig vom Verfahrensausgang kraft Gesetzes nicht zulässig. Diese Regelung dient der Umsetzung des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Dublin III-VO. Danach sorgen die Mitgliedstaaten unter anderem dadurch für einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung, dass die betreffende Person die Möglichkeit hat, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen, und die Überstellung ausgesetzt wird, bis die Entscheidung über den ersten Antrag auf Aussetzung ergangen ist.

21 Der Übergang von der ersten auf die zweite Variante des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO setzt allerdings voraus, dass die mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs angelaufene Überstellungsfrist noch nicht abgelaufen war. Denn es versteht sich von selbst, dass die an den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO geknüpften Rechtsfolgen durch ein Ereignis, das eine neue Überstellungsfrist in Lauf setzt, nicht rückgängig gemacht werden können. Zugleich ergibt sich aus Sinn und Zweck der in die zweite Variante aufgenommenen Beschränkung auf einen Rechtsbehelf, der aufschiebende Wirkung hat, dass bei dieser Variante der Beginn der Überstellungsfrist nur so lange herausgeschoben wird, wie die Überstellungsentscheidung wegen eines Rechtsbehelfs nicht vollzogen werden darf. Das ist nach nationalem Recht indes nicht mehr der Fall, wenn das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt hat. Denn ab diesem Zeitpunkt sind die Behörden aus Rechtsgründen nicht länger an der Durchführung der Abschiebung gehindert.

22 Deshalb begann die Überstellungsfrist im vorliegenden Fall zunächst am 26. November 2014 mit der gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO nach Ablauf von zwei Wochen fingierten Annahme des fristgemäß gestellten Wiederaufnahmeersuchens an Italien. Der Kläger hat aber gegen die Überstellungsentscheidung Klage erhoben und rechtzeitig einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt. Die nach der ersten Variante des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO in Lauf gesetzte Überstellungsfrist war zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht abgelaufen, so dass die zweite Variante des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO greift. Wegen der durch den Antrag bewirkten Unterbrechung der Überstellungsfrist begann diese (erneut) mit Bekanntgabe des vorläufigen Rechtsschutz ablehnenden verwaltungsgerichtlichen Beschlusses am 12. März 2015 an die Beklagte und war folglich bei der Überstellung des Klägers am 3. August 2015 noch nicht abgelaufen.

23 d) Die Frage, ob nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO Italien oder Deutschland originär zuständig ist, könnte allerdings dann offenbleiben, wenn infolge der illegalen Wiedereinreise des Klägers zu dem hier nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts am 3. November 2015 die Zuständigkeit nach den Vorschriften der Dublin III-VO auf Deutschland übergegangen oder ein erneut durchzuführendes Wiederaufnahmeverfahren noch nicht abgeschlossen war. Entscheidungserheblich wird dann, ob nach den Grundsätzen der Dublin III-VO mit einer fristgemäß erfolgten Überstellung die Zuständigkeit für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz noch nicht endgültig bestimmt ist, sondern im Falle einer umgehenden illegalen Rückkehr des Asylbewerbers ein erneutes (Wieder-) Aufnahmeverfahren - gegebenenfalls mit erneuter Beachtung zuständigkeitsrelevanter Fristen - durchzuführen wäre. In diesem Zusammenhang stellen sich die oben genannten unionsrechtlichen Fragen zur Auslegung der Dublin III-VO.

24 aa) Die Frage 1 Buchstabe a soll klären, ob nach den Grundsätzen der Dublin III-VO für die gerichtliche Überprüfung einer Überstellungsentscheidung abweichend von der nationalen Regelung des § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG unionsrechtlich die Sachlage im Zeitpunkt der fristgerecht erfolgten Überstellung maßgeblich ist. Denn es spricht einiges dafür, dass nach einer fristgerecht erfolgten Überstellung in den originär zuständigen Mitgliedstaat die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaates endgültig bestimmt ist und die Vorschriften der Dublin III-VO, insbesondere diejenigen über die Durchführung eines Wiederaufnahmeverfahrens, auf nachträgliche tatsächliche Umstände wie die illegale Wiedereinreise eines Asylbewerbers nicht mehr anwendbar sind.

25 Zu dieser Frage enthält die Dublin III-VO keine ausdrücklichen Regelungen. Die Vorschriften über das Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahren sind jedenfalls nicht unmittelbar auf eine solche Fallkonstellation zugeschnitten, so dass allenfalls eine analoge Anwendung in Betracht käme. Art. 21 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 1 Dublin III-VO knüpfen die Einleitung eines Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahrens an die (erneute) Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in dem ersuchenden Mitgliedstaat. Die hiernach vorausgesetzte Situation ist mit der vorliegenden allenfalls insoweit vergleichbar, als der Kläger in Deutschland vor seiner Überstellung einen (erneuten) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, über den zum Zeitpunkt seiner illegalen Wiedereinreise noch nicht rechtskräftig entschieden worden war. Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO erfasst zwar Konstellationen, in denen sich ein Drittstaatsangehöriger ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufhält und keinen neuen Antrag auf internationalen Schutz stellt. Wie die Regelung in Art. 24 Abs. 3 Dublin III-VO zeigt, wonach dem Drittstaatsangehörigen bei nicht fristgerechter Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs die Gelegenheit zu geben ist, einen neuen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, passt jedoch auch diese Vorschrift nicht unmittelbar auf den Fall eines bereits anhängigen, noch nicht rechtskräftig beschiedenen Antrags.

26 Eine eindeutige Antwort auf die aufgeworfene Fragestellung ergibt sich auch nicht aus dem mit der Dublin III-VO verfolgten zentralen Ziel, eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zu ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren der Gewährung internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden (5. Erwägungsgrund). Zwar würde eine jedenfalls analoge Anwendung der Vorschriften über das (Wieder)Aufnahmeverfahren es ermöglichen, dass der Betroffene in einem geordneten Verfahren wieder in den für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz originär zuständigen Mitgliedstaat überstellt und zeitnah entweder dort oder bei einem etwaigen Zuständigkeitsübergang infolge einer Fristversäumnis in dem anderen Mitgliedstaat mit einer inhaltlichen Prüfung des Asylantrags begonnen werden kann. Aber die Obliegenheit eines Mitgliedstaates, in solchen Fällen erneut ein Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahrens durchführen zu müssen, könnte Asylbewerber dazu veranlassen, sich trotz der Überstellung wieder in den von ihnen favorisierten Mitgliedstaat zu begeben. Dann hätten es Asylbewerber stets in der Hand, die zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten im Wege eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahrens getroffene Zuständigkeitsbestimmung durch eine illegale Rückkehr wieder in Frage zu stellen und damit letztendlich eine ihren persönlichen Interessen nicht entsprechende Zuständigkeitsbestimmung zu unterlaufen. Eine solche Annahme liefe dem Ziel des Dublin-Systems zuwider, durch Schaffung einheitlicher Verfahren und Kriterien zur Zuständigkeitsbestimmung die Sekundärmigration gerade zu verhindern (vgl. EuGH, Urteil vom 17. März 2016 - C-695/15 PPU [ECLI:EU:C:2016:188], Mirza - Rn. 52).

27 bb) Für den Fall, dass mit einer einmal fristgerecht erfolgten Überstellung die Zuständigkeit unter den Mitgliedstaaten endgültig bestimmt ist, bedarf es - hierauf zielt der zweite Teil der ersten Vorlagefrage (Frage 1 Buchstabe b) - zudem der Klärung, ob aufgrund der einmal getroffenen Überstellungsentscheidung weitere Überstellungen in den zuständigen Mitgliedstaat möglich sind und dieser nach Sinn und Zweck der Regelungen der Dublin III-VO zur Aufnahme des Drittstaatsangehörigen verpflichtet bleibt.

28 Ist die Zuständigkeit mit der einmal erfolgten Überstellung endgültig festgelegt, bedarf es gegenüber dem Asylbewerber einer rechtlichen Grundlage für eine erneute Überstellung in den für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat. Diese könnte, wenn keine Obliegenheit zur Durchführung eines erneuten (Wieder-) Aufnahmeverfahrens gegenüber dem anderen Mitgliedstaat besteht, weiterhin in der einmal getroffenen Überstellungsentscheidung liegen. Als Anknüpfungspunkt für eine fortbestehende (Wieder)Aufnahmepflicht des originär zuständigen Mitgliedstaates ließe sich die Vorschrift des Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO anführen. Danach ist der nach den Kriterien der Verordnung zuständige Mitgliedstaat in den durch Art. 18 Abs. 1 Buchst. a bis d Dublin III-VO näher bestimmten Fällen zur Aufnahme- bzw. Wiederaufnahme eines Antragstellers verpflichtet. Allerdings ist, wie die weiteren aufeinander abgestimmten Regelungen in Kapitel VI der Dublin III-VO zeigen, die Durchführung einer (weiteren) Überstellung ohne vorherige Durchführung eines Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahrens jedenfalls nicht ausdrücklich vorgesehen.

29 Deshalb ist auch in Betracht zu ziehen, dass sich die Rückführung des Asylbewerbers im Anschluss an eine einmal durchgeführte Überstellung nicht mehr nach den Bestimmungen der Dublin III-VO richtet. Dann käme als Rechtsgrundlage für eine Rückführung Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die gemeinsamen Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) in Betracht. Nach dieser Bestimmung sind Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates sind, zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaates zu begeben; kommen sie dieser Verpflichtung nicht nach, erlassen die Mitgliedstaaten eine Rückkehrentscheidung. Dazu müsste die sich aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 S. 60) ergebende Berechtigung, bis zur erstinstanzlichen Entscheidung der Asylbehörde über den Antrag auf internationalen Schutz im Mitgliedstaat zu verbleiben, als eine "sonstige Aufenthaltsberechtigung" im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG anzusehen sein, die diesen Mitgliedstaat zur Aufnahme der betreffenden Person verpflichtet. Das würde indes voraussetzen, dass das Asylverfahren in dem anderen Mitgliedstaat (hier: Italien) noch nicht abgeschlossen ist.

30 Folgt man dem nicht, verbliebe in Ermangelung anderweitiger unionsrechtlicher Grundlagen für eine Überstellung in den im Dublin-Verfahren als zuständig bestimmten Mitgliedstaat allenfalls ein Rekurs auf bilaterale Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten. Unter den vorliegenden Umständen wäre dabei eine Überstellung an Italien nach Maßgabe von Art. 2 Abs. 1 des unter anderem zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik geschlossenen Übereinkommens betreffend die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt vom 29. März 1991 in Betracht zu ziehen. Danach übernimmt die Vertragspartei, über deren Außengrenze eine Person eingereist ist, die im Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei die geltenden Voraussetzungen für die Einreise oder den Aufenthalt nicht (mehr) erfüllt, diese Person formlos auf Antrag dieser Vertragspartei. Wie sich aus dieser Regelung ergibt, muss es sich bei dem hiernach zur Übernahme verpflichteten Staat indes nicht zwangsläufig um den für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat handeln, auch wenn dies unter den vorliegenden Umständen der Fall wäre.

31 cc) Die weiteren Vorlagefragen sind durch den Gerichtshof nur für den Fall zu beantworten, dass mit einer fristgerecht durchgeführten Überstellung in den originär zuständigen Mitgliedstaat die Zuständigkeitsbestimmung nicht endgültig abgeschlossen ist. Sie zielen auf die Klärung, welche Regelungen der Dublin III-VO im Falle der illegalen Rückkehr eines überstellten Drittstaatsangehörigen unter Umständen wie den vorliegenden - gegebenenfalls analog - Anwendung finden und wie diese Vorschriften dabei im Einzelnen auszulegen sind. Nach der Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts kommt dabei in Betracht, dass Art. 23 Dublin III-VO über das Wiederaufnahmeverfahren nach erneuter Antragstellung, Art. 24 Dublin III-VO über das Wiederaufnahmeverfahren ohne erneute Antragstellung oder aber keine dieser beiden Vorschriften heranzuziehen ist (Frage 2).

32 aaa) Für den Fall, dass weder Art. 23 noch Art. 24 Dublin III-VO - gegebenenfalls analog - Anwendung finden, bedarf der Klärung, ob aufgrund der angefochtenen Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des dagegen gerichteten Rechtsbehelfsverfahrens weitere Überstellungen in den originär zuständigen Mitgliedstaat (hier: Italien) möglich sind und dieser Mitgliedstaat unabhängig von der Stellung weiterer Wiederaufnahmegesuche ohne Beachtung der Fristen des Art. 23 Abs. 2 und 3 oder Art. 24 Abs. 2 Dublin III-VO und auch unabhängig von Überstellungsfristen gemäß Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO, die gegebenenfalls zu einem Zuständigkeitsübergang auf den anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) führen können, zur Wiederaufnahme des Drittstaatsangehörigen verpflichtet bleibt (Frage 3).

33 bbb) Für den Fall, dass Art. 23 Dublin III-VO - gegebenenfalls analog - Anwendung findet, bedarf der Klärung, ob die Stellung eines dann erforderlichen erneuten Wiederaufnahmegesuchs an eine neue zweimonatige oder dreimonatige Frist nach Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO gebunden ist und ob - falls diese Frage zu bejahen sein sollte - diese neue Frist bereits durch die Kenntnis der zuständigen Behörde von der Wiedereinreise oder durch ein anderes Ereignis in Lauf gesetzt wird (Frage 4). Gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO ist ein Wiederaufnahmeverfahren so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach einer Eurodac-Treffermeldung im Sinne von Art. 9 Abs. 5 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 zu stellen. Stützt sich das Wiederaufnahmegesuch auf andere Beweismittel als auf Angaben aus dem Eurodac-System, ist es innerhalb von drei Monaten, nachdem der Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO gestellt wurde, an den ersuchten Mitgliedstaat zu richten. Unmittelbar ist diese Regelung allein auf eine Situation zugeschnitten, in der nach Stellung eines Antrags auf internationalem Schutz in dem originär zuständigen Mitgliedstaat (hier: Italien) in dem um Wiederaufnah me ersuchenden Mitgliedstaat (hier: Deutschland) ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird und bei dessen Prüfung entweder eine Eurodac-Treffermeldung oder sonstige Beweismittel und Indizien auf eine Zuständigkeit des originär zuständigen Mitgliedstaates hinweisen. Es liegt auf der Hand, dass die hiernach ursprünglich in Lauf gesetzte zweimonatige bzw. dreimonatige Frist für die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs nicht auch für die Stellung eines weiteren Wiederaufnahmegesuchs nach illegaler Rückkehr maßgeblich sein kann. Denn im Falle einer illegalen Rückkehr wird diese Frist - wie hier - regelmäßig verstrichen sein. In Ermangelung einer erneuten Eurodac-Treffermeldung bzw. eines erneuten Antrags könnte als ein den Fristlauf auslösendes Ereignis aber möglicherweise auf die Kenntnis der nach Art. 35 Abs. 1 Dublin III-VO für die Einleitung des Wiederaufnahmeverfahrens zuständigen nationalen Behörde, hier des Bundesamtes, von der illegalen Rückkehr des Drittstaatsangehörigen abzustellen sein.

34 ccc) Für den Fall, dass in Ermangelung eines erneuten Antrags auf internationalen Schutz nicht Art. 23 Dublin III-VO, sondern Art. 24 Dublin III-VO - gegebenenfalls analog - Anwendung findet, ist klärungsbedürftig, ob die Stellung eines erneuten Wiederaufnahmegesuchs an eine neue zwei- oder dreimonatige Frist nach Art. 24 Abs. 2 Dublin III-VO gebunden ist. Falls diese Frage zu bejahen sein sollte, stellt sich die weitere Frage, durch welches Ereignis die Frist in Lauf gesetzt wird (Frage 5 Buchstabe a). Denn ebenso wenig wie die Fristenregelung in Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO ist auch die Fristenregelung in Art. 24 Abs. 2 Dublin III-VO auf eine Situation wie die vorliegende zugeschnitten. Die vorstehenden Erwägungen zur Auslegung von Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO gelten daher entsprechend.

35 Ist der um Wiederaufnahme ersuchende Mitgliedstaat an eine aus Art. 24 Abs. 2 Dublin III-VO (analog) folgende Frist für die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs gebunden, hält das vorlegende Gericht außerdem eine Klärung der an das erfolglose Verstreichen der Frist geknüpften Rechtsfolge für erforderlich (Frage 5 Buchstabe b). Anders als Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO sieht Art. 24 Abs. 3 Dublin-VO nämlich keinen Zuständigkeitsübergang vor, wenn das Wiederaufnahmegesuch nicht fristgerecht gestellt wird. Stattdessen bestimmt Art. 24 Abs. 3 Dublin III-VO lediglich, dass dem Drittstaatsangehörigen die Gelegenheit zu geben ist, einen neuen Antrag zu stellen. Allerdings könnte diese Regelung dahin zu verstehen sein, dass die Stellung eines neuen Antrags im Sinne des Art. 24 Abs. 3 Dublin III-VO unmittelbar die Zuständigkeit des Mitgliedstaates begründet, in dem der neue Antrag gestellt wird. Wirkt die Stellung des neuen Antrags hingegen nicht unmittelbar zuständigkeitsbegründend, könnte dieser Mitgliedstaat berechtigt bleiben, den originär zuständigen Mitgliedstaat ohne Bindung an eine Frist um Wiederaufnahme zu ersuchen oder den Drittstaatsangehörigen ohne Wiederaufnahmegesuch in diesen zu überstellen.

36 Falls die Stellung eines neuen Antrags gemäß Art. 24 Abs. 3 Dublin III-VO unmittelbar zuständigkeitsbegründend wirken sollte, bedarf außerdem der Klärung, ob die Rechtshängigkeit eines in einem Mitgliedstaat vor der Überstellung gestellten Antrags der Stellung eines neuen Asylantrags im Sinne des Art. 24 Abs. 3 Dublin III-VO gleichzustellen ist (Frage 5 Buchstabe c). Denn der Kläger des Ausgangsverfahrens hat, nachdem er an Italien überstellt wurde und illegal nach Deutschland zurückgekehrt ist, keinen weiteren Asylantrag gestellt, sondern vielmehr den gegen die abschlägige Bescheidung des früheren Antrags noch anhängigen Rechtsbehelf weiterverfolgt.

37 Ist die vorstehende Frage zu verneinen, bedarf schließlich der Klärung, ob der andere Mitgliedstaat (hier: Deutschland) erneut den originär zuständigen Mitgliedstaat (hier Italien) ohne Bindung an eine Frist um Wiederaufnahme ersuchen oder den Drittstaatsangehörigen ohne Wiederaufnahmegesuch in diesen Mitgliedstaat überstellen kann (Frage 5 Buchstabe d). [...]