VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 10.03.2017 - A 3 K 593/16 - asyl.net: M25100
https://www.asyl.net/rsdb/M25100
Leitsatz:

Bei Zweitantrag hat das BAMF Abschiebungsverbote zu prüfen, wenn diese im Staat, der für das Erstverfahren zuständig war, nicht geprüft wurden:

1. Ein Zweitantrags nach § 71a Abs. 1 AsylG darf nur dann unter den erschwerenden Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1-3 VwVfG geprüft werden, wenn im Erstverfahren im Mitgliedstaat, der ursprünglich zuständig war, die Prüfung des jeweiligen Schutzstatus tatsächlich erfolgt ist. Ansonsten muss aufgrund einer teleologische Reduktion des § 71a Abs. 1 AsylG das BAMF die Prüfung wie in einem Erstverfahren durchführen. Jedenfalls aber gebietet Art. 3 EMRK, bzw. Art. 2 Abs. 2 GG eine Ermessensreduktion, so dass das BAMF in so einem Fall das Verfahren nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 VwVfG wiederaufzugreifen hat und eine erstmalige Sachentscheidung treffen muss.

2. Die nationalen Abschiebungsverbote aus § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG stellen eigenständige Schutztatbestände dar, die im anderen Mitgliedstaat (hier Belgien) naturgemäß nicht geprüft werden konnten.

3. Die an PTBS, Angststörung und Depression erkrankte Klägerin aus Mazedonien hat Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen Gefahr einer Retraumatisierung bei Rückkehr.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Zweitantrag, Prüfungsumfang, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, psychische Erkrankung, Mazedonien, Retraumatisierung, Wiederaufnahme des Verfahrens, Wiederaufnahme, teleologische Reduktion, Ermessensreduzierung auf Null, Posttraumatische Belastungsstörung, Angststörung, Depression, Suizidgefahr,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylG § 71a Abs. 1, AsylG § 71a, AufenthG § 60 Abs. 5, VwVfG § 51 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 16 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 16 Abs. 1 Bst. b, AsylG § 71, EMRK Art. 3, GG Art. 2 Abs. 2, VwVfG § 51 Abs. 5, VwVfG § 48,
Auszüge:

[...]

1. Die Beklagte ist im angegriffenen Bescheid vom 21.01.2016 zutreffend davon ausgegangen, dass ein Zweitantragsverfahren i.S.d. § 71a Abs. 1 AsylG vorliegt. Denn zuvor haben die Kläger in Belgien als dem für ihren ersten gemeinsamen Asylantrag zuständigen Mitgliedstaat erfolglos ein Asylverfahren betrieben, welches mit der ablehnenden Entscheidung hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus‘ endete. Ausweislich der Bundesamtsakte ist das belgische Asylverfahren mit dem Beschluss vom 07.09.2011 auch bestandskräftig abgeschlossen, nachdem die Kläger selbst mitteilten, dass sie in Belgien eine ablehnende Entscheidung erhalten haben und nicht äußerten, hiergegen um Rechtsschutz nachgesucht zu haben, sondern vielmehr in der Folge (erneut) in die Bundesrepublik Deutschland eingereist zu sein.

Damit ist der Anwendungsbereich des § 71a Abs. 1 AsylG eröffnet.

Die Bundesrepublik Deutschland ist auch für das Zweitverfahren zuständig, da die Kläger zwischenzeitlich - nach erfolgloser Durchführung des Asylverfahrens in Belgien - nach Mazedonien zurückgekehrt waren, so dass die Pflicht Belgiens zur (weiteren) Prüfung des Asylbegehrens der Kläger jedenfalls nach Art. 16 Abs. 3, Abs. 1 lit. b) Dublin II-VO erloschen ist und die Wiedereinreise der Kläger im Jahre 2013 (nach Belgien und Deutschland) mithin eine Folge- bzw. Zweitantragskonstellation ist (ebenso Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, EL 81 Dezember 2007, § 71a Rn. 13). [...]

2. Das Gericht vermag hingegen der Beklagten nicht dahingehend zu folgen, dass die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG nur unter den (strengeren) Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1-3 VwVfG erfolgen darf.

Denn anders als in der typischen Folgeantragskonstellation der §§ 71 Abs. 1, 31 Abs. 3 S. 1, 24 Abs. 2 AsylG wurden Abschiebungsverbote im Erstverfahren in Belgien ausweislich der Bundesamtsakten nicht geprüft. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der subsidiäre Schutz, der durch die belgische Asylbehörde abgelehnt wurde, auch die Prüfung von Art. 3 EMRK mit umfasst, sodass insoweit eine inhaltliche Kongruenz zu § 60 Abs. 5 AufenthG besteht. Denn die nationalen Abschiebungsverbote (des § 60 Abs. 5 bzw. 7 S. 1 AufenthG) stellen eigenständige Schutztatbestände dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.03.2015 - 1 C 16/14 - juris Rn. 15 hinsichtlich § 60 Abs. 2 AufenthG a. F.), die in Belgien naturgemäß nicht geprüft werden konnten.

Die vorstehend dargestellte Auffassung lässt sich dogmatisch durch eine teleologische Reduktion des § 71a Abs. 1 AsylG begründen. Denn die in § 71a Abs. 1 AsylG in den Blick genommene Parallele zu § 71 Abs. 1 AsylG besteht nicht (vgl. hierzu Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, EL 81. Dezember 2007, § 71a Rn. 7), wenn der betreffende Schutztatbestand in dem anderen, ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat nicht geprüft worden ist. In der Sache liegt dann ein Erstverfahren vor. Dann ist es aber nicht gerechtfertigt, die Prüfung vom Vorliegen der zusätzlichen Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1-3 VwVfG abhängig zu machen.

Selbst wenn man dies anders sehen wollte, geböten europarechtliche (Art. 3 EMRK) bzw. verfassungsrechtliche (Art. 2 Abs. 2 GG) Gründe, jedenfalls eine Ermessensreduktion der Beklagten hinsichtlich einer (erstmaligen) Sachentscheidung hinsichtlich § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG gem. § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 VwVfG vorzunehmen (vgl. hierzu Funke-Kaiser, a.a.O. § 71 Rn. 335 ff., 342).

3. Denn die Klägerin Ziff. 2 hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. [...]

b) Zwar mag es – wie die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid vom 21.01.2016 ausführt – so sein, dass psychische Erkrankungen in Mazedonien grundsätzlich behandelbar sind und eine solche Behandlungsmöglichkeit auch grundsätzlich für Rückkehrer erreichbar (finanzierbar) ist (vgl. VGH BW, Urteil vom 27.04.2016 - A 6 S 916/15 - juris Rn. 33, 35).

Hierauf kommt es aber entscheidungserheblich nicht an.

Denn ein Abschiebungsverbot kann sich ungeachtet der prinzipiell ausreichenden Behandelbarkeit und Versorgungsmöglichkeit psychischer Erkrankungen auch daraus ergeben, dass eine Abschiebung aus in der Erkrankung selbst liegenden Gründen für den Betroffenen unzumutbar ist: [...]

Derartiges ist – insbesondere unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung, in der der erkennende Einzelrichter die behandelnde Psychotherapeutin zum Gesundheitszustand der Klägerin Ziff. 2 informatorisch angehört hat und aufgrund der vorgelegten psychiatrischen und psychotherapeutischen Atteste – in Bezug auf die Klägerin Ziff. 2 anzunehmen.

Die vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen des behandelnden Psychiaters und der behandelnden Psychotherapeutin genügen den (hohen) Anforderungen an ärztliche Atteste im psychiatrischen/psychologischen Fachgebiet, wie sie das BVerwG (wegweisend Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8.07 – juris Rn. 15 = InfAuslR 2008, 142) fordert, und belegen die Gefahr einer Retraumatisierung der Klägerin Ziff. 2 im Falle der (erzwungenen) Rückkehr nach Mazedonien, sodass die beachtliche Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer erheblichen, konkreten Gesundheitsverschlechterung der Klägerin Ziff. 2 besteht. [...]

Eine eigene gerichtliche Beurteilung des Krankheitsbildes der Klägerin im Wege der Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens war nach alledem ebenfalls nicht angezeigt. Mit dem hinreichenden Grad an Überzeugungsbildung steht fest, dass es bei dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Mazedonien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit – wie es erforderlich ist – zu einer erheblichen, konkreten Gefahr der Gesundheitsverschlechterung in Form einer Retraumatisierung kommen dürfte.

Hinzu kommt in Bezug auf die psychischen Erkrankungen der Klägerin Ziff. 2 (auch in Ansehung der Regelungen in § 60 Abs. 7 S. 2 und 3 AufenthG, vgl. BT-Drs. 18/7538, S. 18), dass jedenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit einer Suizidalität der Klägerin Ziff. 2 gerechnet werden müsste, zumal ein derartiger Verdachtsmoment bereits früher (aufgrund der seinerzeit ebenfalls drohenden Abschiebung nach Mazedonien) bestand. Angesichts der Brisanz der Schutzgutgefährdung im Falle der Suizidalität sind an den Grad der Wahrscheinlichkeit geringere Anforderungen zu stellen, die – zusammen mit obigen Ausführungen – zur Annahme einer beachtlich wahrscheinlichen Gefahr der erheblichen Gesundheitsverschlechterung berechtigen (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 - juris Rn. 27 = EzAR-NF 62 Nr. 34; unter Verweis auf BVerwG, Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - juris = NVwZ 1992, 582 und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris = NVwZ 2013, 936).

Eine andere Bewertung ist auch nicht wegen § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG geboten: [...]

Eine Verschärfung des Prüfungsmaßstabs bzw. des Gefährdungsgrades gegenüber der bisherigen Rechtslage, insbesondere wie sie durch die Rechtsprechung bereits bisher ausgelegt worden ist, ist mit § 60 Abs. 7 S. 2 und 3 AufenthG aber nicht verbunden. Weitergehende Anforderungen ergeben sich mithin aus § 60 Abs. 7 S. 2 und 3 ggü. S. 1 AufenthG nicht. [...]