SG Itzehoe

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Zitieren als:
SG Itzehoe, Beschluss vom 21.06.2017 - S 45 SO 15/17 ER - asyl.net: M25218
https://www.asyl.net/rsdb/M25218
Leitsatz:

Gewährung vorläufiger ergänzender Leistungen nach § 22 Abs. 1 S 2 SGB XII für jungen Geflüchteten in Ausbildung wegen des Vorliegens eines besonderen Härtefalles. Die Leistungen können ergänzend zur Ausbildungsvergütung und Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) gewährt werden

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: SGB XII, Sozialleistungen, Ausbildung, Härtefall, Asylbewerber, Asylverfahren, Integration, Asylbewerberleistungen, Analogleistungen, Leistungsausschluss, Nebentätigkeit,
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1, SGB XII § 22 Abs. 1 S. 2, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 1, SGB XII § 27 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Nach summarischer Prüfung stehen dem Kläger Leistungen in analoger Anwendung der Vorschriften des SGB XII gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII zu, da ein besonderer Härtefall anzunehmen ist.


Der Antragsteller ist Asylbewerber und hat eine Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens. Grundsätzlich ist er leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsyIbLG. Der Antragsteller hält sich seit über 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet auf und hat die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG ist daher das SGB XII entsprechend anzuwenden.

Nach § 27 Abs. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt Person zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten können. Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII haben jedoch Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen der Bundesausbildungsförderungsgesetzes oder der § 51,57 und 58 SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistung nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII. Nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII allerdings können in besonderen Härtefällen Leistung nach dem Dritten oder Vierten Kapitel SGB XII als Beihilfe oder Darlehen gewährt werden.

Dem Antragsteller wurde durch Bescheid vom 16.12.2016 Berufsausbildungsbeihilfe gemäß §§ 56 ff. SGB III gewährt. Da er demnach eine förderungsfähige Ausbildung absolviert, greift daher grundsätzlich der Ausschluss nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, wonach Auszubildende keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt haben.

Allerdings liegt hier ein besonderer Härtefall im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII vor. Der Begriff des besonderen Härtefalles unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der vollen gerichtlichen Kontrolle.

Dabei ist in systematischer Hinsicht zunächst der Ausnahmecharakter der Vorschrift im Verhältnis zu dem in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII grundsätzlich angeordneten Leistungsausschluss zu beachten, womit eine restriktive Auslegung angezeigt ist. In sprachlicher Hinsicht wird der Ausnahmecharakter durch den Zusatz "besondere" betont. Darüber hinaus ist der Zweck des angeordneten Leistungsausschlusses zu berücksichtigen, der darin besteht, die Inanspruchnahme von ergänzender Sozialhilfe zu verhindern, wenn die Notlage durch eine abstrakt förderungsfähige Ausbildung verursacht wird (vgl. BSG, Urteil vom 27.09.2011, Az.: B 4 AS 145/10 R, zur Parallelvorschrift im SGB II § 7 Abs. 5 Satz 1, zitiert nach juris). Bereits mit der Vorgängervorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) sollte in Fällen, in denen eine Förderung nach dem BAföG oder dem SGB III und damit gleichsam sondergesetzlich ausgeschlossen war, eine "versteckte" Förderung auf der Ebene des Sozialhilferechts verhindert werden (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.2008, Az.: B 4 AS 28/07 R, Rn 20, m.w.N, zitiert nach juris). Mit § 22 SGB XII beabsichtigte der Gesetzgeber, den früheren § 26 BSHG "inhaltsgleich" zu übertragen (BT-Drs. 15/1514, S. 57) (vgl. SG Hamburg, Beschluss vom 07.09.2016, Az.: S 28 AY 56/16 ER, Rn. 8 und SG Hamburg, Beschluss vom 15.04.2016, Az.: S 10 AY 25/16 ER, Rn. 8, beide zitiert nach juris).

Ein besonderer Härtefall liegt dann vor, wenn im Einzelfall Umstände hinzutreten, die einen Ausschluss von der Ausbildungsförderung durch Hilfe zum Lebensunterhalt auch mit Rücksicht auf den Gesetzeszweck, die Sozialhilfe von den finanziellen Lasten eine Ausbildungsförderung freizuhalten, als übermäßig hart, das heißt als unzumutbar oder in hohem Maße unbillig, erscheinen zu lassen (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 01.07.2009, Az.: B 4 AS 67/08 R, Rn. 17 m.w.N, zitiert nach juris).

Nach dem BSG müsse dabei auch dem Ziel der Grundsicherung, die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit zu unterstützen, hinreichend Rechnung getragen werden. Der Zielsetzung des "Förderns" entspreche es auch, arbeitsmarktbezogene Aspekte bei der Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffes der besonderen Härte zuzulassen (vgl. BSG, Urteil vom 27.09.2011, Az.: B 4 AS 145110 R, zitiert nach juris). Der Gesetzgeber sei offenbar davon ausgegangen, dass es sich bei Auszubildenden regelmäßig um junge Menschen handelt, die einerseits ihre Lebensführung vorübergehend einschränken können und von denen andererseits erwartet werden kann, dass sie sich etwas hinzuverdienen. Dazu gehöre damit auch, dass die Betroffenen ihren Lebensunterhalt ggfs. durch Ausübung einer Nebenbeschäftigung finanzieren (vgl. SG Hamburg, Beschluss vom 07.09.2016, Az.: S 28 AY 56/16 ER, Rn. 9, zitiert nach juris).

Der vorliegende Sachverhalt stellt sich insoweit als außergewöhnlich dar, dass der Antragsteller bei fehlender Bewilligung von Leistungen durch den Antragsgegner vor der Schwierigkeit steht, seine trotz Ausbildungsvergütung und des Erhalts von Berufsausbildungsbeihilfe die vorhandene Bedarfslücke zu schließen. Zwar begründet die Tatsache allein, dass der Auszubildender mit dem ihm nach dem SGB III gewährten Förderungsbetrag sowie der Ausbildungsvergütung nicht auskommt, für sich genommen noch keine besondere Härte. Es handelt sich hier aber gerade nicht um das typische Problem aller Auszubildenden, die eine nicht bedarfsdeckende Ausbildungsförderung erhalten. Denn der Antragsteller ist im Hinblick auf seinen aufenthaltsrechtlichen Status, wonach sein Aufenthalt lediglich gestattet ist, mit Ausnahme der begonnenen Berufsausbildung, eine weiteren Erwerbstätigkeit oder Arbeitsaufnahme nicht gestattet. Er kann einer Nebenbeschäftigung nicht ohne weiteres aufnehmen. Daran gehindert ist er zum einen aufgrund seiner besonderen Arbeitszeiten, die aus der Ausbildung zum Bäcker resultieren. So beginnt der 8-stündige Arbeitstag um 4 Uhr morgens. Zum andren bräuchte der Antragsteller zum Erhalt einer weiteren Arbeitserlaubnis die Zustimmung vom jetzigen Arbeitgeber, wovon nicht ohne Weiteres ausgegangen werden kann. Der Antragsteller ist daher gerade nicht in der Lage seine Bedarfslücke durch die Aufnahme einer Nebentätigkeit auszugleichen.

Hinzu kommt die Tatsache, dass die entstandene Bedarfslücke auch nicht durch das Weiterreichen des Kindergeldes an ihn durch seine Eltern geschlossen werden kann, da er auf Grund seines Status als Asylbewerber mit Aufenthaltsgestattung keinen Anspruch auf Kindergeld hat. Denn solange das Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist, kann Kindergeld nicht beantragt werden. Ein Anspruch auf Kindergeld entsteht erst, wenn der Asylantrag positiv entschieden worden ist.

Im Übrigen ist es dem Antragsteller nicht zuzumuten, seine Ausbildung nur deswegen abzubrechen, damit er Leistungen in analoger Anwendung des SGB XII gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG bekommt. Gerade in Hinblick auf das Integrationsgesetz, wonach der Zugang zu berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen, die bis zum 31.12 2018 beginnen, für Asylsuchende bei denen ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten, geöffnet worden ist. Der Erwerb einer beruflichen Qualifikation ist eine wichtige Voraussetzung für die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die Integration in die hiesige Gesellschaft. Daher stellt gerade im Hinblick auf die Integration des Antragstellers ein Abbruch seiner Ausbildung keine gleich geeignete Maßnahme dar. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Antragsteller um einen ehemals unbegleiteten minderjährigen Flüchtling handelt, der erfolgreich die Schule besucht hat. Mit der begonnene Berufsausbildung ist damit ein wesentlicher Schritt zur auch allgemeinpolitisch wünschenswerten Integration getan, welche durch die Nichtbewilligung der beantragten Leistungen in hohem Maße gefährdet erscheint, so dass im Ergebnis die Annahme eines Härtefalles im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII gerechtfertigt erscheint. [...]