BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 02.12.2014 - 1 B 21.14 - asyl.net: M25276
https://www.asyl.net/rsdb/M25276
Leitsatz:

Eine unangemessen lange Verfahrensdauer beim Kindesnachzug führt nicht dazu, dass den Betroffenen eine Rechtsstellung zuwächst, die ihnen nach materiellem Recht nicht zustehen würde. Vielmehr kann sie für die Sachentscheidung in dem zu lange dauernden Verfahren nur berücksichtigt werden, wenn das materielle Recht dies vorschreibt oder zulässt. Ob diese Möglichkeit besteht, ist durch die Auslegung der entscheidungserheblichen materiellrechtlichen Normen und Rechtsgrundsätze zu ermitteln.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Familiennachzug, Kindernachzug, Verfahrensdauer, minderjährig, Volljährigkeit, Beurteilungszeitpunkt, Sicherung des Lebensunterhalts, Divergenzrüge,
Normen: AufenthG § 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 6,
Auszüge:

[...]

Für das im vorliegenden Fall für den Nachzugsanspruch der Klägerin zu 2 entscheidende Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts bedeutet das, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG spätestens im Zeitpunkt der Vollendung des 16. Lebensjahres und im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vorgelegen haben müssen (vgl. Urteil vom 7. April 2009 a.a.O., jeweils Rn. 29 und 36). Einer Klärung in einem erneuten Revisionsverfahren bedarf es insoweit nicht. Da nach den gerichtlichen Feststellungen keine den Lebensunterhalt sichernden Einkünfte vorhanden waren, kommt es darauf an, ob zu beiden Zeitpunkten eine Ausnahme von der regelmäßig zu erfüllenden Voraussetzung vorlag. Eine solche Ausnahme hat das Berufungsgericht jedenfalls für den Zeitpunkt seiner Entscheidung verneint und dies ausführlich fallbezogen begründet (UA S. 20 bis 22). Die in diesem Zusammenhang von der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob sich ein anderes Ergebnis dann ergäbe, wenn der Schutz der Familie für die im Jahr 1995 geborene Klägerin existentielle Bedeutung habe, ist eine Frage der Beurteilung im Einzelfall, die sich einer rechtsgrundsätzlichen Klärung entzieht. [...]

Für die innerstaatlichen Rechtsfolgen einer unangemessen langen Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist zu beachten, dass diese Bestimmung nur Verfahrensrechte einräumt. Diese dienen der Durchsetzung und Sicherung des materiellen Rechts; sie sind aber nicht darauf gerichtet, das materielle Recht zu ändern (vgl. Urteil vom 28. Februar 2013 - BVerwG 2 C 3.12 - BVerwGE 146, 98 = Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 19, jeweils Rn. 50). Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Daher kann eine unangemessen lange Verfahrensdauer nicht dazu führen, dass den Verfahrensbeteiligten eine Rechtsstellung zuwächst, die ihnen nach dem innerstaatlichen materiellen Recht nicht zusteht. Vielmehr kann sie für die Sachentscheidung in dem zu lange dauernden Verfahren nur berücksichtigt werden, wenn das materielle Recht dies vorschreibt oder zulässt. Ob diese Möglichkeit besteht, ist durch die Auslegung der entscheidungserheblichen materiellrechtlichen Normen und Rechtsgrundsätze zu ermitteln. Bei dieser Auslegung ist das Gebot der konventionskonformen Auslegung im Rahmen des methodisch Vertretbaren zu berücksichtigen (Urteil vom 28. Februar 2013. a.a.O.). Es bedarf nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens, um für das Aufenthaltsrecht klarzustellen, dass eine überlange Verfahrensdauer keine Ausnahme vom Regelerfordernis der Unterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG begründet. Der Gesetzgeber hat davon abgesehen, einen inhaltlichen Bezug zwischen der überlangen Dauer eines Verfahrens und den geltend gemachten materiellrechtlichen Positionen herzustellen. Das gilt auch für die von der Beschwerde aufgeworfene Frage eines durch die Verfahrensdauer bewirkten Wegfalls von Gründen, die ein Absehen von der Sicherung des Lebensunterhalts hätten rechtfertigen können. Auch in einer solchen Fallkonstellation sind die Verfahrensbeteiligten auf Entschädigungsansprüche nach Maßgabe der §§ 198 ff. GVG in der Fassung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011 (BGBl I S. 2302) verwiesen. [...]