VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 07.08.2017 - 5 A 60/16 - asyl.net: M25566
https://www.asyl.net/rsdb/M25566
Leitsatz:

Da der Kläger zu einer Zeit aus der Region Lower Shabelle ausgereist ist, als diese unter Kontrolle von Al-Shabaab stand, besteht die Gefahr, dass diese ihn als Kollaborateur oder Spion verdächtigt. Da er bei der Rückreise Gebiete durchqueren müsste, die noch von Al-Shabaab kontrolliert werden, würde er sich dabei der Gefahr der Verfolgung aussetzen.

Schlagwörter: Somalia, Lower Shabelle Region, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, subsidiärer Schutz, gefahrerhöhende Umstände, Al Shabaab, konkrete Gefahr, erhebliche individuelle Gefahr, willkürliche Gewalt, Zentralsomalia, Südsomalia, Mogadischu,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, AsylG § 4 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

In Somalia besteht nach der Rechtsprechung in der Kammer ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Im Urteil vom 3. Dezember 2015 (5 A 43/15) hat das erkennende Gericht insoweit wie folgt ausgeführt:

"In Somalia besteht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG. [...]

Trotz der Rückeroberung von einigen Städten des Landes durch kenianische Gruppen bleibt die Al-Shabaab nach wie vor eine Gefahr in den betreffenden Gebieten in Süd- und Zentralsomalia. Von einer flächendeckenden effektiven Staatsgewalt kann laut Auswärtigem Amt nicht gesprochen werden. […]"

Diese Bewertung hat das erkennende Gericht in der Folge aufrechterhalten (vgl. bspw. U. v. 14.09.2016 – 5 A 6/15). Im Urteil vom 25. Oktober 2016 (5 A 8/15) hat das erkennende Gericht für die Herkunftsregion Lower Shabelle des Klägers insoweit wie folgt ausgeführt:

"Es kann nach wie vor nicht von einer beruhigten Lage in Süd- und Zentralsomalia ausgegangen werden Dies gilt insbesondere auch für Mogadischu und die Region Lower Shabelle, aus der die Klägerin stammt. [...]"

Auch unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel hält das erkennende Gericht hieran für die Region Lower Shabelle fest. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes mit Stand vom November 2016 herrscht in vielen Gebieten von Süd- und Zentralsomalia, wo auch die Hauptstadt Mogadischu liegt, Bürgerkrieg. Dies betrifft jedenfalls die Region Lower Shabelle, zumal diese nach den Kurzübersichten von Accord im Rahmen des ACLED-Projekts weiterhin zu den am stärksten von Konflikten und hieraus resultierenden Todesfällen betroffenen Regionen in Somalia überhaupt. Der Bericht für das 4. Quartal 2016 weist 153 Vorfälle und 317 Tote, der Bericht für das 1. Quartal 2017 117 Vorfälle mit 202 Toten aus.

Nach diesen Maßstäben hat der Kläger stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht, das ihm bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ein ernsthafter Schaden infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht, § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG. Eine Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG kann sich aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Zivilpersonen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der Person des betreffenden Ausländers verdichtet. Eine solche Verdichtung bzw. Individualisierung kann zum einen bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, zum anderen kann sie sich aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Dazu gehören persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen,ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören aber auch z.B. vorangegangene gezielte Gewaltakte. Der bei Bewertung der entsprechenden Gefahren anzulegende Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Prüfung der tatsächlichen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK (vgl. VG Braunschweig, U. v. 3.12.2015, a.a.O.).

Nach diesen Maßstäben ist der Kläger aufgrund individueller gefahrerhöhender Umstände in seiner Person einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt. Dies ergibt sich schon daraus, dass er aus der Region Lower Shabelle stammt, dieses Gebiet zu einer Zeit verlassen hat, als Al-Shabaab dort die Kontrolle hatte und er im Falle seiner Rückkehr Gebiete jedenfalls durchqueren müsste, die unter der Kontrolle von Al-Shabaab stehen (vgl. auch VG München, U. v. 29.07.2016 – M 11 K 14.30712 -, juris Rn. 24 ff.; VG Darmstadt, U. v. 16.05.2016- 3 K 977/14.DA.A - , juris Rn. 40). Dass der Kläger aus der Region Lower Shabelle stammt, ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Der Kläger hat sich durchgehend so eingelassen. Die Beklagte hat hierzu nicht – wie dies aus anderen Verfahren gerichtsbekannt ist – ein Sprach- bzw. Herkunftsgutachten veranlasst und die Herkunft des Klägers aus der Region Lower Shabelle auch auf konkrete Anfrage des erkennenden Gerichts mit Schreiben vom 24. April 2017 nicht in Zweifel gezogen. Nach dem zuvor beschriebenen Maßstab resultiert hieraus – wie bereits in dem den Beteiligten vorab übersandten Urteil des Gerichts zum Aktenzeichen 5 A 8/15 vom 25. Oktober 2016 näher ausgeführt sowie zuvor unter Bezugnahme auf zusätzliche aktuelle Erkenntnismittel ergänzende dargelegt – die hinreichend konkrete Gefahr, dass Al-Shabaab ihn als Kollaborateur oder Spion verdächtigen und entsprechend schwerwiegenden Sanktionen gegen ihn richten würde. Entsprechendes gilt für seine Rückkehr nach Mogadischu, zumal nach den in Bezug genommenen Erkenntnismitteln davon auszugehen ist, dass für den Kläger dort bereits nach der Versorgungslage eine Lebensgefahr bestünde. Weil es für die Entscheidung über die Klage hierauf nicht ankommt, muss das erkennende Gericht deshalb nicht abschließend klären, ob die Einlassung des Klägers zutrifft, ihm drohe aufgrund einer bzw. wiederholter außerehelicher Beziehungen die Vollstreckung einer ihm gegenüber von Al-Shabaab verhängten Todesstrafe. [...]