OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 28.09.2017 - 3 D 52/17 - asyl.net: M25766
https://www.asyl.net/rsdb/M25766
Leitsatz:

Bewilligung von Prozesskostenhilfe, da in der Hauptsache unter Einbeziehung des Sachverständigengutachtens tatrichterlich zu prüfen ist ob eine konkrete Wiederholungsgefahr und damit eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung i.S.v. § 6 FreizügG/EU vorliegt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Verlust des Freizügigkeitsrechts, Unionsbürger, Straftat, konkrete Wiederholungsgefahr, Sachverständigengutachten, forensisches Gutachten, gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung, Wiederholungsgefahr,
Normen: FreizügG/EU § 6 Abs. 2 S. 2, FreizügG/EU § 6 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Allerdings ist nicht sicher einzuschätzen, ob derzeit ein persönliches Verhalten des Klägers festgestellt werden kann, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung i. S. v. § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU darstellt. Denn ob die gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU erforderliche konkrete Wiederholungsgefahr vorliegt, die eine solche Gefährdung begründen könnte, ist nach dem über den Kläger erstellten forensisch-psychiatrischen Fachgutachten vom xx. März 2017 wenigstens offen.

Für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr ist eine tatrichterliche Prognose erforderlich, die sich auf das persönliche Verhalten des Betroffenen stützt. Der Annahme einer Wiederholungsgefahr steht grundsätzlich nicht entgegen, dass ein Strafgericht die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt hat. Denn Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte habe eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen und sind an die Feststellungen und Beurteilung der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden (BVerwG, Urt. v. 2. September 2009 - 1 C 2.09 -, juris Rn. 17 f. m. w. N.). Dabei können an die Beurteilung der Wiederholungsgefahr geringere Anforderungen gestellt werden, wenn Rechtsgüter mit einer hervorgehobenen Bedeutung bedroht sind (BVerwG, Urt. v. 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 - , juris Rn. 16 m. w. N.). Daher können der Beklagte wie auch das Verwaltungsgericht aus der gutachterlichen Einschätzung der fortdauernden Gefährlichkeit des Klägers unabhängig von den Feststellungen eines Strafgerichts ihre eigenen Schlüsse ziehen. Hiervon ausgehend kann aber derzeit nicht mit hinreichender Sicherheit von einer fortdauernden Gefährdung durch den Kläger ausgegangen werden. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Der Gutachter ist zu dem abschließenden Ergebnis gelangt, dass bei dem Kläger keine Gefährlichkeit mehr fortbesteht. Der Beklagte hat in seinem Schriftsatz vom 23. Mai 2017 hierzu zwar darauf hingewiesen, dass die gutachterlichen Feststellungen zum Persönlichkeitsbild des Klägers, zu seiner Persönlichkeitsentwicklung sowie zu weiteren prognostisch günstigen und ungünstigen Faktoren (vgl. Ziff. III Buchst. a bis c, S. 13 ff. des Gutachtens) eine Vielzahl von Anhaltspunkten enthalten, die die positive Einschätzung des Gutachtens eher nicht tragen. So wird dort auf die chronische Neigung des Klägers zu delinquentem Verhalten im Hinblick auf Betrugsdelikte, seine geringe Widerstandskraft gegen Wünsche, die sich gegen seine eigenen Prinzipien richteten, auf den Mangel einer ausreichenden Konfliktaufarbeitung, die unklare Haftsituation in seinem Heimatland sowie den immer noch bestehenden Kontakt zu seinem mitverurteilten Mittäter hingewiesen. Allerdings wird auch darauf abgestellt, dass der Kläger von der Länge der Haft in größerem Ausmaß beeindruckt zu sein scheint, dass gesundheitliche Probleme seiner Partnerin, die unverändert zu ihm halte, zu einer gewissen Reflektion über sein Verhalten geführt hätten, er nunmehr seine finanziellen Angelegenheiten mit einer Privatinsolvenz in geordnete Bahnen gelenkt habe und sich mittlerweile auch von kriminellen Milieu abgewandt zu haben scheint. Daher lässt sich auf der Grundlage der schriftlichen Ausführungen allein ein hinreichend klares Bild von der fortbestehenden Gefährlichkeit des Klägers nicht machen. Hierzu ist wenigstens eine Einvernahme des Gutachters im Rahmen einer mündlichen Verhandlung erforderlich. Ob dies auch für eine Einvernahme des möglicherweise derzeit in italienischer Haft befindlichen Klägers gilt, kann offen bleiben.

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die vom Beklagten und der Widerspruchsbehörde angestellten Ermessenserwägungen bislang die gutachterlichen Feststellungen noch nicht einbezogen haben. Einer Heilung dieses Mangels gemäß § 114 VwGO steht entgegen, dass der Beklagte zwar in seiner Klageerwiderung vom 23. Mai 2017 hierzu Stellung genommen hat. Da der Beklagte hierdurch aber bislang nicht unmissverständlich deutlich gemacht hat, dass es sich dabei nicht nur um ein prozessuales Verteidigungsvorbringen handelt, sondern auch eine Änderung der angegriffenen Verwaltungsakte selbst bewirkt werden soll, dürfte derzeit noch nicht von i. S. v. § 114 Satz 2 VwGO ordnungsgemäß nachgeschobenen Ermessenserwägungen auszugehen sein, so dass die in Streit stehenden Verwaltungsakte schon aus diesem Grund derzeit ermessensfehlerhaft sein dürften (hierzu grundlegend BVerwG, Urt. v. 20. Juni 2013 - 8 C 46.12 -, juris Rn. 35; Beschl. v. 15. Mai 2014 - 9 B 57.13 -, juris Rn. 11 m. w. N.). [...]