LSG Bayern

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Zitieren als:
LSG Bayern, Urteil vom 18.07.2017 - L 8 AY 18/15 - asyl.net: M26089
https://www.asyl.net/rsdb/M26089
Leitsatz:

1. Personen, die Asylbewerberleistungen nach § 3 AsybLG beziehen (also keine Analogleistungen nach § 2 AsylbLG), haben keinen Anspruch auf einen Zuschlag für Alleinerziehende durch analoge Anwendung von § 30 SGB XII.

2. Der Anspruch kann auch nicht über § 6 AsylbLG geltend gemacht werden, da dieser nur für besondere und atypische Bedarfslagen gedacht ist.

3. Diese Einschränkung ist auch mit Art. 21 der Aufnahmerichtlinie vereinbar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialleistungen, alleinerziehend, Mehrbedarf, Gesetzeslücke, Analogie, SGB XII,
Normen: SGB XII § 30 Abs. 3, AsylG § 3, AsylG § 6, AsylG § 9 Abs. 1, RL 2013/33/EU Art. 21,
Auszüge:

[...]

Eine analoge Anwendung von § 30 Abs. 3 SGB XII im Rahmen einer Leistungsgewährung in den ersten 15 Monaten des Aufenthalts in Deutschland nach § 3 AsylbLG scheidet auch aus folgenden Gründen aus: § 9 Abs. 1 AsylbLG schließt Leistungen nach dem SGB XII für Asylbewerber explizit aus. Die analoge Anwendung der Vorschriften über den pauschalierten Mehrbedarf für Alleinerziehende war weder in der bis 28.02.2015, noch in den ab 01.03.2015 oder ab 24.10.2015 geltenden Fassungen des AsylbLG im Rahmen der Leistungsgewährung nach § 3 AsylbLG vorgesehen. Nachdem in den weiteren Gesetzgebungsverfahren des AsylbLG (Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 16.03.2016, Neuntes Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 29.07.2016 und Integrationsgesetz vom 05.08.2016) auf die Einführung der im Leistungssystem des SGB II und SGB XII gewährten Mehrbedarfe bewusst verzichtet wurde, liegt eine klare gesetzgeberische Entscheidung hierzu vor. Zutreffend hat das SG deshalb ausgeführt, dass keine gesetzgeberische Regelungslücke vorliegt, die im Wege der Analogie zu schließen sei. Der Gesetzgeber hat in § 6 AsylbLG eine leistungsrechtliche Auffangvorschrift geschaffen, mit der zusätzliche Bedarfe auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalles zur Sicherung des Lebensunterhaltes oder der Gesundheit anerkannt und primär mit Sachleistungen gedeckt werden können. Danach kann auch ein konkret geltend gemachter und nachgewiesener Mehrbedarf gewährt werden. Den ergänzenden Rückgriff auf pauschale Leistungen nach dem SGB XII hat der Gesetzgeber unmissverständlich für die Dauer des Bezugs von Leistungen nach § 3 AsylbLG ausgeschlossen.

Die Frage, ob die Klägerin einen Anspruch auf den geltend gemachten pauschalen Mehrbedarf bei Alleinerziehung hat, beantwortet sich damit eindeutig aus §§ 6, 9 AsylbLG. Weiterhin steht einem Anspruch auf die Gewährung einer pauschalen Geldleistung zur Deckung eines Mehrbedarfs wegen Alleinerziehung entgegen, dass ein solcher dem AsylbLG im Rahmen der Leistungsgewährung nach § 3 AsylbLG systemfremd ist, da nach diesem Gesetz eine konkret individuelle Bedarfsdeckung durch (vorrangige) Sachleistungen erfolgt. Zutreffend hat das SG insoweit auf die Entscheidung des BSG vom 20.12.2012, B 7 AY 1/11 R verwiesen, in dem zu den Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise im AsylbLG Geldleistung anstelle der vorrangig zu erbringenden Sachleistungen zu erbringen sind, Stellung genommen wird. Sogar die früher im Schrifttum vertretene einzelne Rechtsauffassung, wonach bei dem vergleichbaren Bedarf werdender Müttern nach der 12.  Schwangerschaftswoche in Anlehnung an § 30 Abs. 2 SGB XII ein Mehrbedarf gleichsam typisierend zu unterstellen sei, wird nicht mehr vertreten (vgl. Ferichs in Schlegel/Voelzke, juris-PK- SGB XII, Stand 22.05.2017, § 6 AsylbLG, Rn. 53.1). [...]

Zutreffend hat das SG auch ausgeführt, dass die sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers, wegen des Alleinerziehenden-Mehrbedarfes im SGB II und SGB XII pauschale Geldleistungen zu gewähren und andererseits im AsylbLG eine konkret individuelle Bedarfsdeckung vorzusehen, unter Grundrechtsgesichtspunkten nicht zu beanstanden sei. Der Senat schließt sich den Ausführungen des SG an. Berücksichtigt werden muss zudem, dass auch das AsylbLG zwei Leistungsformen vorsieht, abhängig von der Dauer des Aufenthalts. So werden Grundleistungen nach § 3 AsylbLG, die primär als Sachleistungen konkret-individuell gewährt werden, in den ersten 15 Monaten des Aufenthalts in Deutschland gewährt, ab dem 16. Monat besteht gem. § 2 AsylbLG ein Anspruch auf die pauschale Gewährung von Geldleistungen in entsprechender Anwendung des SGB XII, auch bzgl. der Mehrbedarfe nach § 30 SGB XII, jedenfalls bei dezentraler Unterbringung. Auch diese Differenzierung ist nach Überzeugung des Senats verfassungskonform. Dies gilt auch im Hinblick auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10. Dort hat das BVerfG ausgeführt, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Menschenrecht sei, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, gleichermaßen zustehe (Rn. 62 f.). Weiter stellt das BVerfG klar, dass der Umfang des Leistungsanspruchs auf Existenzsicherung nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden könne. Auch wurde der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums bestätigt. So bleibe es dem Gesetzgeber unter anderem überlassen, ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichere. Weiterhin wird betont, dass der Gestaltungsspielraum enger sei, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiere und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gehe.

Der Mehrbedarf für Alleinerziehende ist nicht - wie die Klägerin hat vortragen lassen - primär zur Sicherung der physischen Existenz erforderlich, sondern soll vielmehr einen pauschal angenommenen Mehrbedarf für soziale Belange (Kontaktpflege, Unterstützung in Erziehungsangelegenheiten) sowie eine geringere Möglichkeit des kostenbewussten Einkaufs kompensieren (BT-Drs. 10/3079, S. 5). Der Gesetzgeber ist hier tendenziell freier in der Ausgestaltung. Es ist grundrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber für den ersten Zeitraum  es Aufenthalts in Deutschland eine Bedarfsdeckung durch einzelfallbezogene Sachleistungen, entsprechend der Leistungssystematik einer konkreten Bedarfsdeckung im AsylbLG, nach § 6 AsylbLG vorsieht und erst im Rahmen der Gewährung sog. Analogleistungen nach § 2 AsylbLG pauschale Leistungen zur Deckung des Mehrbedarfs gewährt. Durch die Herabsetzung der Aufenthaltsdauer von 48 auf 15 Monate für einen Anspruch auf sog. Analogleistungen nach § 2 AsylbLG durch das Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10. Dezember 2014 zum 01.03.2015 hat der Gesetzgeber die Zeitdauer für die Inanspruchnahme von reduzierten Leistungen nach § 3 AsylbLG deutlich reduziert. Die Klägerin erhält entsprechend dieser neuen Gesetzeslage seit 03.10.2015 Leistungen nach § 2 AsylbLG mit dem pauschalierten Mehrbedarf für Alleinerziehende.

Der reduzierte Leistungsumfang nach § 3 AsylbLG ist einer abweichenden Bedarfslage mindestens in den ersten 15 Monaten geschuldet. Denn in dieser Zeit ist eine Perspektive auf einen Daueraufenthalt in Deutschland noch nicht gegeben, vielmehr ist von einem vorläufigen Aufenthalt auszugehen, da ein Asylverfahren mit ggf. anschließendem Gerichtsverfahren in etwa 15 Monate dauert (Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10. Dezember 2014, BT-Drs. 18/2592). Es ist grundrechtlich nicht zu beanstanden, für diese Zeitdauer eine abweichende Bedarfssituation anzunehmen, gerade auch für den Mehrbedarf für Alleinerziehende, da eine erhöhte Bedarfslage der durch den Mehrbedarf auszugleichenden Bedarfe (Beratung, Unterstützung in Erziehungsangelegenheiten, Betreuungsleistungen bzw. aufgrund geringerer Möglichkeiten eines preisbewussten Einkaufs) aufgrund der primären Gewährung von Sachleistungen, Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen (§§ 44, 47 AsylG) bzw. Gemeinschaftsunterkünften (§ 53 AsylG) und der ungewissen Bleibeperspektive in dieser Zeit nicht pauschal angenommen werden kann.

Ein dennoch bestehender Bedarf der alleinerziehenden Leistungsempfänger nach dem AsylbLG kann in diesem Zeitraum über § 6 AsylbLG konkret-individuell mittels Sachleistungen gedeckt werden. [...]

Auch ein Verstoß gegen EU-Recht liegt nicht vor. Insbesondere gebietet Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen nicht, dass Mehrbedarfsleistungen entsprechend dem SGB XII gewährt werden. Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie besagt, dass die Mitgliedstaaten in den nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation von besonders schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, berücksichtigen. Im Folgenden werden in der Richtlinie in den Art. 23 bis 25 spezielle Vorgaben für Minderjährige, unbegleitete Minderjährige und Opfer von Folter und Gewalt gemacht. Für Alleinerziehende verbleibt es bei der allgemeinen Regelung in Art. 21 der Richtlinie. Diesen europarechtlichen Vorgaben wird durch § 6 AsylbLG, der im Einzelfall die Gewährung sonstiger Leistungen im Ermessenswege vorsieht, entsprochen. Art. 21 ff. der Richtlinie sieht gerade keine pauschale Mehrbedarfsgewährung vor. [...]