VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.04.2018 - A 11 S 628/18 - asyl.net: M26219
https://www.asyl.net/rsdb/M26219
Leitsatz:

[Berufungszulassung gegen Überraschungsentscheidung wegen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör:]

Zweifelt das Gericht an einem für den geltend gemachten Anspruch maßgeblichen Umstand (hier: der Herkunft der Kläger), von dem die Verfahrensbeteiligten bisher übereinstimmend ausgehen und der sogar bereits Grundlage einer begünstigenden Entscheidung des Bundesamts ist (hier: der Zuerkennung subsidiären Schutzes), und kann es auf diese Zweifel entscheidungserheblich ankommen, so gebietet es der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG), den Beteiligten - jedenfalls vor Schluss der mündlichen Verhandlung - einen entsprechenden Hinweis zu erteilen.

(Amtlicher Leitsatz; Fortführung dieser Rechtsprechung: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.05.2018 - A 11 S 1123/18 - asyl.net: M26312)

Schlagwörter: rechtliches Gehör, Überraschungsentscheidung, Asylverfahren, Hinweispflicht, richterlicher Hinweis, subsidiärer Schutz, Berufungszulassung,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, VwGO § 138 Nr. 3, GG Art. 103 Abs. 1
Auszüge:

[…]

Eine unzulässige Überraschungsentscheidung ist nur anzunehmen, wenn das Gericht einen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der der Beteiligte nach dem bisherigen Prozessverlauf – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht rechnen musste (vgl. zum Ganzen BVerfG, Beschlüsse vom 29.05.1991, a.a.O., vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91 -, BVerfGE 86, 133 und vom 31.05.1995 - 2 BvR 736/95 -, NVwZ-Beil. 1995, 66; BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, juris, und vom 10.04.1991 - 8 C 106.89 -, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235, Beschlüsse vom 13.12.2011, vom 11.05.1999 und vom 17.11.1995, jew. a.a.O.). […]

Das Urteil erweist sich aber als unzulässige Überraschungsentscheidung im Sinne der o. g. Rechtsprechung. Denn das Verwaltungsgericht hat die Abweisung der - allein auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichteten - Klagen tragend darauf gestützt, dass es sich von der Herkunft der Kläger nicht habe überzeugen und diese auch nicht näher habe aufklären können, weil die Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen seien. Darauf, dass es diesen Umstand für entscheidungserheblich halten könnte, hätte das Gericht aber nach dem Gang des gesamten Verfahrens hinweisen müssen. Zweifelt das Gericht nämlich an einem für den geltend gemachten Anspruch maßgeblichen Umstand (hier: der Herkunft der Kläger), von dem die Verfahrensbeteiligten bisher übereinstimmend ausgehen und der sogar bereits Grundlage einer begünstigenden Entscheidung des Bundesamts ist (hier: der Zuerkennung subsidiären Schut-zes), und kann es auf diese Zweifel entscheidungserheblich ankommen, so gebietet es der Anspruch auf rechtliches Gehör, den Beteiligten - jedenfalls vor Schluss der mündlichen Verhandlung - einen entsprechenden Hinweis zu erteilen. Dies gilt zumal, wenn nicht nur bereits eine begünstigende Entscheidung der Behörde auf diesem Umstand beruht, sondern darüber hinaus auch Dokumente vorhanden sind, die den ihr zugrundeliegenden, vom Gericht in Zweifel gezogenen Umstand stützen.

Dieser Hinweispflicht ist das Verwaltungsgericht, wie das Zulassungsvorbringen zutreffend darlegt, nicht nachgekommen. Die Kläger hatten im Verfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) angegeben, aus Syrien zu stammen. Die Kläger Ziff. 1, 3 und 4 befürchteten Verfol-gung insbesondere im Hinblick darauf, dass sie sich durch ihre Ausreise dem Dienst im Militär bzw. der Wehrpflicht entzogen hätten. Zum Nachweis ihrer syrischen Staatsangehörigkeit legte die Familie beim Bundesamt drei syrische Reisepässe sowie vier syrische Personalausweise (ID-Cards) vor, bei deren zerstö-rungsfreier Untersuchung das Bundesamt keine Manipulationen feststellen konnte. Es erkannte der Familie daraufhin den subsidiären Schutzstatus zu. Weder im behördlichen noch im vorbereitenden gerichtlichen Verfahren wurden Zweifel an der syrischen Herkunft der Kläger aktenkundig. In der Ladung zur mündlichen Verhandlung ordnete das Gericht das persönliche Erscheinen der Kläger (vgl. § 95 VwGO) nicht an; an der mündlichen Verhandlung nahm auf Seiten der Kläger lediglich deren Prozessbevollmächtigter teil. Die Originale der - in der Akte lediglich als Scan enthaltenen - Identitätsdokumente forderte das Gericht nicht an.

Erwägt das Gericht bei dieser Sachlage eine Klageabweisung allein deshalb, weil die Kläger der mündlichen Verhandlung persönlich ferngeblieben sind und ihre Identität somit nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden könne, gebietet der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs zwingend, vorab einen entsprechenden Hinweis zu erteilen. [...]