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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 04.05.2018 - 2 BvR 632/18 - asyl.net: M26273
https://www.asyl.net/rsdb/M26273
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot trotz drohender Verhängung einer Todesstrafe:

1. In Tunesien wird die Todesstrafe aufgrund eines Moratoriums seit 1991 nicht mehr vollstreckt. Dies gilt auch für Personen, die terroristischer Straftaten beschuldigt werden.

2. Auch die faktische lebenslange Freiheitsstrafe, die aus dem Verzicht auf die Vollstreckung einer Todesstrafe resultiert, begründet keinen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, da die lebenslange Haftstrafe herabgesetzt werden kann.

(Leitsätze der Redaktion; siehe hierzu auch die sehr ähnliche Entscheidung: BVerwG, Beschluss vom 26.03.2018 - 1 VR 1.18 - Asylmagazin 6/2018, S. 206 f. - asyl.net: M26170)

Schlagwörter: Tunesien, Todesstrafe, Abschiebungsverbot, Europäische Menschenrechtskonvention, lebenslange Freiheitsstrafe, Zusicherung, Begnadigung,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

45 Das Bundesverwaltungsgericht durfte davon ausgehen, dass die dem Beschwerdeführer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Todesstrafe nicht vollstreckt wird. Für diese Annahme bestehen hinreichende tatsächliche Grundlagen. Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 (S. 17) und der Verbalnote des tunesischen Außenministeriums vom 11. Juli 2017 folgt, dass in Tunesien die Todesstrafe aufgrund eines Moratoriums seit 1991 nicht mehr vollstreckt wird. Zudem ist die weitere Einhaltung des Moratoriums durch tunesische Behörden im Zuge der Sachverhaltsaufklärung durch das Bundesverwaltungsgericht und bezogen auf den konkreten Fall des Beschwerdeführers aktualisiert worden (vgl. Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 und vom 20. März 2018). Damit kommt auch ein Verstoß der Überstellung des Beschwerdeführers nach Tunesien gegen Art. 2 EMRK wegen der ihm dort drohenden Strafe nicht in Betracht. [...]

47 [...] In der Verhängung einer Todesstrafe bei zugleich bestehender Sicherheit, dass diese nicht vollstreckt wird, liegt kein Verstoß gegen eine menschenwürdige Strafvollstreckung gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. [...]

51 [...] Auch die faktische lebenslange Freiheitsstrafe, die aus dem Verzicht auf die Vollstreckung einer Todesstrafe resultiert, begründet im vorliegenden Fall keinen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

52 [...] Die lebenslange Freiheitsstrafe stellt einen außerordentlich schweren Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen dar. Die Freiheit der Person, die Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG als unverletzlich garantiert, wird durch diese Strafe auf Dauer entzogen. Es gehört zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance verbleibt, je wieder die Freiheit wiedergewinnen zu können (vgl. BVerfGE 45, 187 <229, 245>; 113, 154 <164, 166 f.>). Es ist mit der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar, wenn ein Verurteilter in der Strafhaft ungeachtet seiner persönlichen Entwicklung jegliche Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufgeben muss (vgl. BVerfGE 45, 187 <245>). Soll ein Beschwerdeführer in einen anderen Staat überstellt werden, ist nicht der verfassungsrechtliche Maßstab für die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Strafvollstreckung in Deutschland anzulegen. In dieser Konstellation kommt es nur darauf an, dass in einem anderen Rechtssystem jedenfalls eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht (vgl. BVerfGE 113, 154 <165>). [...]

59 cc) Das Bundesverwaltungsgericht hat den ihm zustehenden Wertungsrahmen nicht überschritten, indem es die dem Beschwerdeführer in Tunesien drohende Strafe als nach diesen Maßstäben herabsetzbar eingeschätzt hat. Die Überzeugung des Bundesverwaltungsgerichts, dass der Beschwerdeführer de jure und de facto eine realistische Möglichkeit hat, nach Verbüßen einer Mindestdauer seiner Haft die Freiheit wieder zu erlangen, wird durch die im Wege zureichender Sachverhaltsaufklärung eingeholten Auskünfte und die übrigen vorliegenden Berichte zur Strafvollstreckung in Tunesien getragen.

60 [...] Bei zum Tode verurteilten Personen sind nach der übereinstimmend in den Auskünften dargestellten rechtlichen und tatsächlichen Lage in Tunesien zwei Schritte erforderlich, damit diese aus der Haft entlassen werden können. In einem ersten Schritt bedarf es einer Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe durch einen - nicht auf bestimmte Begnadigungsgründe oder -anlässe eingeschränkten - Gnadenakt des Staatspräsidenten. In einem zweiten Schritt kann eine Strafrestaussetzung entweder über ein Verfahren nach Antrag gemäß Art. 353, 354 der tunesischen Strafprozessordnung (code de procédure pénale - CPP) oder durch eine weitere Begnadigung durch den Staatspräsidenten gemäß Art. 371, 372 CPP erreicht werden. In der Praxis erfolgen die Strafrestaussetzungen eher durch Begnadigungen (vgl. Schriftsatz des Vertreters des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht vom 12. Januar 2018, S. 3). Auch für Personen, die nach dem tunesischen Antiterrorismusgesetz (loi relative à la lutte contre le terrorisme et la répression du blanchiment d`argent - LAT) verurteilt worden sind, ist für eine Entlassung aus der Haft dieses zweistufige Verfahren zu durchlaufen.

61 [...] Ob die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe bereits zwingend aus dem seit 1991 praktizierten Moratorium folgt, wie es das Bundesverwaltungsgericht angenommen hat, kann dahinstehen. Dafür spricht die Angabe des Auswärtigen Amtes in seinem Schreiben vom 7. März 2018, dass als Folge des Moratoriums die Todesstrafe als lebenslange Freiheitsstrafe behandelt werde. Jedenfalls war den Auskünften des Auswärtigen Amtes zu entnehmen, dass jede Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wird (vgl. Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018, S. 2 und vom 20. März 2018, S. 1). Für eine Aussetzung des Strafrestes besteht auch für zum Tode verurteilte Häftlinge nach Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe die Möglichkeit, einen Antrag auf Strafrestaussetzung gemäß Art. 353, 354 CPP zu stellen und damit ihre Haft überprüfen zu lassen. Es kommt parallel dazu eine weitere Begnadigung nach Art. 372 CPP in Betracht (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018, S. 2). Beide Instrumente stellen gleichwertige Möglichkeiten der Herabsetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe dar. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes und des Bundesinnenministeriums ist die Begnadigung die in der Praxis übliche Vorgehensweise für die Strafrestaussetzung. Sowohl eine Strafrestaussetzung nach Art. 353, 354 CPP als auch eine weitere Begnadigung können nach Verbüßung von wenigstens 15 Jahren Haft erfolgen (vgl. Schriftsatz des Vertreters des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht vom 12. Januar 2018, S. 3).

62 [...] Das Bundesverwaltungsgericht musste nicht annehmen, dass diese Verfahrensweise bei Personen, die nach dem Antiterrorismusgesetz zum Tode verurteilt worden sind beziehungsweise werden, keine Anwendung findet. Dass für diesen Täterkreis anders als für die übrigen zum Tode verurteilten Personen die Möglichkeiten einer Begnadigung oder einer Strafrestaussetzung nach Antrag nicht zur Verfügung stehen, geht aus den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht hervor und ist von dem Beschwerdeführer nicht hinreichend dargelegt worden. [...]