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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 17.05.2018 - V ZB 54/17 - asyl.net: M26305
https://www.asyl.net/rsdb/M26305
Leitsatz:

Keine Abschiebungshaft bei Passverlust mangels Vertretenmüssen:

1. Nach § 62 Abs. 3 S. 3 AufenthG darf Abschiebungshaft nicht angeordnet werden, wenn aus Gründen, die die betroffene Person nicht zu vertreten hat, eine Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate möglich ist. 

2. Wenn eine Person ihren Reisepass auf einer Überfahrt über das Meer verloren hat und die Beschaffung eines Ersatzdokuments mehr als drei Monate in Anspruch nimmt, hat sie die Verzögerung der Abschiebung nicht zu vertreten. Der Passverlust wäre nur dann vorwerfbar, wenn sie den Pass "absichtlich und ohne Not über Bord geworfen" oder unzureichend gegen Verlust gesichert hätte. Ein Vertretenmüssen kann nicht schon damit begründet werden, dass Betroffene bei der Überfahrt auf einem "überfüllten, hochseeuntüchtigen Schlauchboot" eine besondere Sorgfaltspflicht treffe (unter Bezug auf BGH, Beschluss vom 25.03.2010 - V ZA 9/10 - asyl.net: M16930).

3. Von einer Mitwirkungspflichtverletzung kann nur ausgegangen werden, wenn die betroffene Person zu einer konkreten Mitwirkungshandlung aufgefordert wurde und diese verweigert (unter Bezug auf BGH, Beschluss vom 19.01.2017 - V ZB 99/16 (ASYLMAGAZIN 4/2017, S. 171) - asyl.net: M24688).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Haftdauer, Passbeschaffung, Passverlust, Sorgfaltspflichten, Vertretenmüssen, Abschiebung, Mitwirkungspflicht, Belehrung, Haftanordnung,
Normen: FamFG § 417 Abs. 2, AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5, AufenthG § 2 Abs. 14 Nr. 4, AufenthG § 2 Abs. 14 Nr. 5, AufenthG § 62 Abs. 3 S. 3, FamFG § 26,
Auszüge:

[...]
Ein Ausländer hat es nicht im Sinne von § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zu vertreten, dass die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann, wenn dies allein darauf zurückzuführen ist, dass er seinen Reisepass auf einer Überfahrt über das Meer verloren hat und die Beschaffung eines Ersatzdokuments mehr als drei Monate in Anspruch nimmt. Der Verlust des Passes muss ihm vorzuwerfen sein; dies wäre etwa der Fall, wenn er ihn bei der Überfahrt absichtlich und ohne Not über Bord geworfen oder wenn er ihn so aufbewahrt hat, dass er in keiner Weise gegen einen Verlust gesichert war. [...]

Entgegen der von der beteiligten Behörde in der Rechtsbeschwerdeerwiderung vertretenen Auffassung kann ein Vertretenmüssen in einer solchen Situation nicht damit begründet werden, dass es angesichts der gefährlichen Überfahrt in einem überfüllten, hochseeuntüchtigen Schlauchboot über das Mittelmeer für jeden vernünftig denkenden Menschen selbstverständlich sei, das einzige Dokument, mit dem die Herkunft und Identität nachzuweisen ist, so sicher und geschützt aufzubewahren, dass es auch bei einer Havarie nicht verloren gehe. Träfe diese Auffassung zu, hätte der Ausländer den Verlust seines Reisepasses außer in Fällen des Diebstahls stets zu vertreten und könnte bei jedem Ausländer, der ohne Reisedokumente in die Bundesrepublik einreist, eine Haft von mehr als drei Monaten angeordnet werden, wenn die Ersatzbeschaffung eine entsprechende Zeit in Anspruch nimmt. Dies würde dem Charakter von § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG als Ausnahmevorschrift nicht gerecht, nach der im Regelfall die Dauer von drei Monaten Haft nicht überschritten werden soll und eine Haftdauer von sechs Monaten (§ 62 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) nicht ohne weiteres als verhältnismäßig angesehen werden darf (vgl. hierzu schon Senat, Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1157 Rn. 19).

c) Der Verstoß des Amtsgerichts gegen seine Sachaufklärungspflicht ist auch nicht durch das Beschwerdegericht geheilt worden. Soweit dieses darauf abstellt, der Betroffene habe das Angebot, an der Passersatzpapierbeschaffung mitzuwirken und die Haftdauer hierdurch erheblich zu verkürzen, nicht wahrgenommen, reicht dies für eine Haftanordnung von mehr als drei Monaten ebenfalls nicht aus.

aa) Von einem Unterlassen trotz bestehender Verpflichtung zu einem Tun kann im Regelfall nur ausgegangen werden, wenn die Ausländerbehörde den Betroffenen über den Umfang seiner nicht ohne weiteres auf der Hand liegenden Mitwirkungspflichten (vgl. §§ 48, 49 AufenthG, § 15 AsylG) belehrt hat, sie ihn zur Vornahme der im jeweiligen Einzelfall erforderlichen konkreten Mitwirkungshandlung aufgefordert und der Betroffene deren Vornahme verweigert hat (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Januar 2017 - V ZB 99/16, NVwZ 2017, 632 Rn. 6 zu § 62 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). [...]