VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 22.05.2018 - 2 A 21/17 - asyl.net: M26323
https://www.asyl.net/rsdb/M26323
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für eine irakische Familie mit acht minderjährigen Kindern: Angesichts der schwierigen Verhältnisse im Irak insgesamt, aber auch in dem kurdischen Autonomiegebiet kann eine Familie von derartiger Größe eine ausreichende Existenzgrundlage nicht mit Sicherheit erwirtschaften.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Kurdisches Autonomiegebiet, Yeziden, Existenzgrundlage, Existenzminimum, minderjährig, Familie, Familienangehörige, humanitäre Situation, Kinder,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]
Die Klage hat Erfolg, soweit bei den Klägern das Vorliegen von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG abgelehnt wurde. [...]

Hier kommt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) aufgrund im Herkunftsstaat der Kläger vorzufindender (allgemeiner) schlechter humanitärer Verhältnisse in Betracht. [...]

Es ist gerichtsbekannt, dass die humanitären Verhältnisse im Irak insgesamt schwierig sind (vgl. dazu sowie zum Folgenden: Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand Dezember 2016, 7. Februar 2017, S. 22 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Irak, 8. April 2016, S. 46). Der irakische Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und nicht in allen Landesteilen gewährleisten. Trotz internationaler Hilfsgelder und Lebensmittelgutscheinen bleibt die Versorgungslage insbesondere auch für ärmere Bevölkerungsschichten defizitär. Als problematisch stellt sich zudem dar, dass viele Iraker ihre Gehälter von der Regierung beziehen, die aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise mit erheblichen Verspätungen ausgezahlt worden sind. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (2 USD/Tag). Auch eine Versorgung mit Strom ist nicht durchgehend gegeben, was Auswirkungen auch auf die Wasserversorgung nach sich zieht. Nur etwa die Hälfte der Bevölkerung verfügt über Zugang zu sauberem Wasser. Auch die medizinische Versorgung ist als angespannt zu bezeichnen. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen verschiedener Mängel nicht durchweg in der Lage, die medizinische Grundversorgung zu gewährleisten.

Auch wenn diese - auf die Verhältnisse im gesamten Irak, insbesondere auch auf die unmittelbar umkämpften Gebiete bezogenen - Angaben auf die Autonome Region Kurdistan nur eingeschränkt übertragen werden können (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand Dezember 2016, 7. Februar 2017, S. 22; Stand Dezember 2017, S. 22 ff, 12. Februar 2018 Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Irak, 8. April 2016, S. 42), ist auch dort die Lage schwierig. Aus einem im März 2016 veröffentlichten Bericht von Oxfam International, einem internationalen Verbund verschiedener Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, ergibt sich zudem, dass das im gesamten Irak geltende Lebensmittelverteilungssystem PDS (Public Distribution System) trotz Verzögerungen bei der Ausgabe einiger Lebensmittelkörbe gerade in den Städten Dohuk und Zakho (jeweils Provinz Dohuk) relativ gut funktioniert (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak, wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für Rückkehrerinnen, 10. Mai 2017, S. 5). Hinsichtlich der medizinischen Grundversorgung ist anzumerken, dass sich direkt in der Stadt Dohuk ein staatliches Zentralkrankenhaus befindet (vgl. VG Köln, Urteil vom 05. Juli 2017 - 3 K 9944/16.A -, Rn. 118, juris unter Bezugnahme auf eine Auskunft des deutschen Generalkonsulats Erbil vom 6. März 2017). Zwar ist auch zu berücksichtigen, dass infolge der zunehmenden Zurückdrängung des IS zahlreiche vertriebene Binnenflüchtlinge, die zwischenzeitlich Zuflucht in der Autonomen Region Kurdistan gefunden hatten, nach und nach in ihre befreiten Heimatgebiete zurückkehren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Irak, 8. April 2016, S. 43; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation, Irak, 16. Februar 2017, S. 9, Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand Dezember 2016, 7. Februar 2017, S. 22; UNHCR, Position zur Rückkehr in den Irak, 14. November 2016, S. 21 f.), was mittelfristig zu einer Verbesserung der Lage in den kurdischen Autonomiegebieten führen dürfte.

Bei den Klägern liegen außergewöhnliche Umstände vor, die in der Gesamtschau der oben zitierten Zustände und Verhältnisse im Irak insgesamt, aber auch in den kurdischen Autonomiegebieten die Feststellung eines Abschiebungsverbotes erfordern. Diese besonderen Umstände resultieren aus der besonderen familiären Situation der Kläger mit insgesamt 8 minderjährigen Kindern. Angesichts dieser Größe der Familie kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak oder nach Kurdistan eine vertretbare wirtschaftliche Basis finden und sich ein neues Leben aufbauen können. Aufgrund der Vielzahl der nach Kurdistan geflüchteten Binnenvertriebenen erscheint es ausgeschlossen, dass der Kläger als Taxifahrer in der Lage sein wird, eine zehnköpfige Familie zu ernähren. Eine Abschiebung der Kläger ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt daher nicht zulässig. [...]