OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 13.07.2018 - 13 ME 373/17 - asyl.net: M26426
https://www.asyl.net/rsdb/M26426
Leitsatz:

[Keine Ausnahme von den besonderen Voraussetzungen für die Annahme einer nachhaltigen Integration:]

Von der Regelanforderung für eine nachhaltige Integration aus § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG, sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zu bekennen und über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu verfügen, kann weder in direkter noch in entsprechender Anwendung des § 25b Abs. 3 AufenthG abgesehen werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Bleiberecht, Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung, Integration, Integrationstest, atypischer Ausnahmefall,
Normen: AufenthG § 25b, AufenthG § 25b Abs. 3, AufenthG § 25b Abs. 1 S. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

11 (a) Abgesehen davon, dass die Beschwerde Darlegungen hierzu nicht enthält, kommt materiellrechtlich eine entsprechende Anwendung des § 25b Abs. 3 AufenthG auf die Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG schon dem Grunde nach nicht in Betracht. Denn es fehlt schon an der für eine erweiternde analoge Anwendung erforderlichen planwidrigen Regelungslücke (vgl. zu diesem Erfordernis für die richterliche Rechtsfortbildung: BVerfG, Urt. v. 11.7.2012 - 1 BvR 3142/07 u.a. -, BVerfGE 132, 99, 127 f. m.w.N.). Die Frage, ob der Anwendungsbereich des § 25b Abs. 3 AufenthG auch auf die Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG ausgedehnt werden soll, ist Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens zum Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung gewesen. So hatte der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 6. Februar 2015 (BR-Drs. 642/14 (B), S. 15) vorgeschlagen, eben eine solche Ausdehnung vorzunehmen. Zur Begründung verwies der Bundesrat darauf, dass Personen, die aus den in § 25b Abs. 3 AufenthG genannten Gründen nicht in der Lage seien, die deutsche Sprache zu erlernen, nach den Erfahrungen der verwaltungsgerichtlichen Praxis auch häufig nicht in der Lage seien, die in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG geforderten Kenntnisse über die deutsche Rechts- und Gesellschaftsordnung zu erwerben beziehungsweise nachzuweisen. Das Einbürgerungsrecht, in dem ähnliche Voraussetzungen gälten, ziehe daraus die Konsequenz, dass sowohl von den Sprachkenntnissen als auch von Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet abgesehen werde, wenn sie wegen Krankheit, Behinderung oder altersbedingt nicht erfüllt werden könnten. Ebenso solle in § 25b Abs. 3 AufenthG verfahren werden. Die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung vom 4. März 2015 (BT-Drs. 18/4199, S. 4) dem Bundestag empfohlen, auf die Ausdehnung zu verzichten. Nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG sei auch ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland erforderlich, von dem nicht abgesehen werden solle, und aus Sicht der Bundesregierung seien Grundkenntnisse des Lebens im Bundesgebiet leichter zu erlangen als das Erlernen der deutschen Sprache. Diesen Erwägungen der Bundesregierung ist der Bundesgesetzgeber gefolgt und hat von einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 25b Abs. 3 AufenthG auch auf die Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG abgesehen. Im Innenausschuss ist ein dem Vorschlag des Bundesrats inhaltsgleicher Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich abgelehnt worden (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 18/5420, S. 13 f.). Dem sich danach ergebenden Beschlussvorschlag des Innenausschusses (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 18/5420, S. 4 ff.) ist der Bundestag gefolgt (vgl. PlProt. 18/115, S. 11170). Danach ist die mangelnde Anwendbarkeit des § 25b Abs. 3 AufenthG auf die Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG ersichtlich nicht planwidrig, sondern vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollt. Eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 25b Abs. 3 AufenthG auch auf die Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG im Wege der Analogie durch richterliche Rechtsfortbildung ist damit ausgeschlossen.

12 Obwohl nicht mehr entscheidungserheblich, weist der Senat kurz darauf hin, dass er auch ein Bedürfnis für eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Ausnahmeregelung in § 25b Abs. 3 AufenthG nicht sieht. Denn der nach § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis auf dieser Rechtsgrundlage erforderliche Nachweis einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland muss nicht zwingend anhand der Regelvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG geführt werden (so auch Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 18/4199, S. 4), vielmehr steht das mangelnde Vorliegen der Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG nicht stets der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG entgegen (vgl. hierzu im Einzelnen: Senatsurt. v. 8.2.2018 - 13 LB 43/17 -, juris Rn. 56).

13 (b) Darüber hinaus wäre § 25b Abs. 3 AufenthG selbst dann, wenn man eine entsprechende Anwendung seiner Rechtsfolge auf Fälle des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG für zulässig erachtete, soweit im vorliegenden Fall trotz der Analogie noch zu verlangen, tatbestandlich nicht erfüllt. Denn weder dargelegt noch offensichtlich für den Senat ist, dass die Antragstellerin zu 1. wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder aus Altersgründen daran gehindert ist, Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet nachzuweisen.

14 (3) Ein nach der Systematik des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG in Betracht kommender Ausnahmefall, in dem trotz Nichterfüllung der vom Gesetzgeber geforderten Integrationsleistung nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG und damit ungeachtet des Nichteintritts der Regelvermutung des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG eine nachhaltige Integration der Antragstellerin zu 1. in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland im Sinne dieser Vorschrift angenommen werden könnte (vgl. oben (2)(a) a.E.), kann hier ebenfalls nicht bejaht werden. Weder dargelegt noch nachgewiesen ist, dass die Antragstellerin zu 1. während ihres langjährigen (mit einer Unterbrechung von acht Monaten seit 1993 andauernden) Aufenthalts im Bundesgebiet besondere Integrationsleistungen - wie etwa ein herausgehobenes soziales Engagement - erbracht hätte. [...]