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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 12.07.2018 - V ZB 98/16 - asyl.net: M26482
https://www.asyl.net/rsdb/M26482
Leitsatz:

Zur Ingewahrsamnahme im Transitbereich eines Flughafens vor Ablauf der in § 15 Abs. 6 S. 2 AufenthG bestimmten 30-Tages-Frist:

"Der nicht auf einer richterlichen Anordnung beruhende Aufenthalt eines Asylsuchenden im Transitbereich eines Flughafens ist vor Ablauf der in § 15 Abs. 6 Satz 2 AufenthG bestimmten Frist von 30 Tagen als Freiheitsentziehung im Sinne von § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, § 415 Abs. 1 FamFG anzusehen, wenn das zuständige Bundesamt den Asylantrag des Betroffenen abgelehnt oder ihm die Einreise verweigert hat, das Verwaltungsgericht die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt und seine Entscheidungsfrist von drei Kalendertagen seit der Bekanntgabe an den Betroffenen verstrichen ist."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Flughafenverfahren, Freiheitsentziehung, Überlegungsfrist, Freiheitsbeschränkung, Transitbereich, Einreiseverweigerung, Zurückweisungshaft,
Normen: AufenthG § 18a, AufenthG § 15 Abs. 6 S. 2, FamFG § 70 Abs. 3 S. 1 Nr. 3, FamFG § 415 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der nicht auf einer richterlichen Anordnung beruhende Aufenthalt eines Asylsuchenden im Transitbereich eines Flughafens ist vor Ablauf der in § 15 Abs. 6 Satz 2 AufenthG bestimmten Frist von 30 Tagen als Freiheitsentziehung im Sinne von § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, § 415 Abs. 1 FamFG anzusehen, wenn das zuständige Bundesamt den Asylantrag des Betroffenen abgelehnt oder ihm die Einreise verweigert hat, das Verwaltungsgericht Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt und seine Entscheidung der Grenzbehörde bekannt gemacht hat und wenn eine Überlegungsfrist von drei Kalendertagen seit der Bekanntgabe an den Betroffenen verstrichen ist. [...]

2. Entgegen der Ansicht der Betroffenen ist das Verbringen eines Ausländers in den Transitbereich eines Flughafens nicht deshalb von vornherein eine Freiheitsentziehung, weil er ohne gültigen Pass oder Passersatz keine realistische Möglichkeit hat, Deutschland wieder zu verlassen.

a) Nach dem Konzept des Gesetzgebers ergibt sich das schon daraus, dass der Aufenthalt eines Ausländers im Transitbereich eines Flughafens oder in einer Flughafenasylunterkunft gemäß § 15 Abs. 6 Satz 1 AufenthG - auch gegen seinen Willen - weder eine Freiheitsentziehung noch eine Freiheitsbeschränkung darstellt. Der Gesetzgeber ist im Anschluss an die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in dessen Urteil vom 14. Mai 1996 (BVerfGE 94, 166) davon ausgegangen, dass der Gewährleistungsgehalt der mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 GG geschützten körperlichen Bewegungsfreiheit durch rechtliche oder tatsächliche Hindernisse für das Überschreiten der Staatsgrenzen und, damit auch durch das Verbringen in den Transitbereich eines Flughafens nicht berührt wird (BVerfGE 94, 166, 199). Entsprechendes gelte für den Transitgewahrsam infolge einer Zurückweisung. Unter Beachtung der faktischen Nähe des Transitgewahrsams zur Freiheitsentziehung sollte der betroffene Ausländer aber nach 30 Tagen ab Ankunft am Flughafen bzw. ab Kenntnisnahme der zuständigen Behörden von seiner Ankunft dem Richter vorgeführt werden (BT-Drucks. 16/5065 S. 165).

b) Das ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Ergebnis nicht anders. Auch danach wäre der Aufenthalt im Transitbereich eines Flughafens nicht von vornherein als Freiheitsentziehung, sondern als eine aufgrund von § 15 Abs. 6 AufenthG ohne richterliche Anordnung zulässige Freiheitsbeschränkung anzusehen, selbst wenn sich der Ausländer - wie hier - nicht durch einen gültigen Pass oder Passersatz ausweisen kann. [...]

Der weitere Aufenthalt eines Betroffenen im Transitbereich eines Flughafens verliert aber seinen Charakter als bloße Freiheitsbeschränkung, wenn die zuständige Behörde ein Asyl- oder ein Einreisegesuch des Betroffenen abgelehnt und das Verwaltungsgericht diese Entscheidung (im vorläufigen Rechtsschutz) bestätigt hat. Dann nämlich hat die Grenzkontrollstelle am Flughafen nach Art. 14 Abs. 4 Schengener Grenzkodex sicherzustellen, dass der Betroffene das deutsche Hoheitsgebiet nicht betritt. Sein weiterer Aufenthalt hat unter diesen Umständen keine andere Funktion als die Zurückweisungshaft nach § 15 Abs. 5 AufenthG und ist ihr gleichzustellen. Das gilt allerdings erst, wenn die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht nur im Sinne von § 18a Abs. 4 Satz 7, § 36 Abs. 3 Satz 9 AsylG durch Niederlegung der vollständig unterschriebenen Entscheidungsformel auf der Geschäftsstelle der Kammer erlassen, sondern, wie geboten, den am Verfahren Beteiligten, insbesondere der Grenzkontrollstelle, bekannt gemacht worden ist und wenn der Betroffene Zeit hatte zu prüfen, wie er auf Ablehnung seines Gesuchs reagiert. Der dafür erforderliche Zeitraum kann mit drei Kalendertagen angesetzt werden. Erst dann steht fest, dass es angesichts der erfolgten Entscheidung nicht zu einer freiwilligen Abreise kommt und die zuständige Behörde jetzt die Abreise organisieren und zwangsweise durchführen muss. [...]