VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 14.05.2018 - 5 K 21888/16 Me - asyl.net: M26549
https://www.asyl.net/rsdb/M26549
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen atheistischen Afghanen:

1. Dem Kläger droht in Afghanistan aufgrund seiner Abwendung vom islamischen Glauben mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, auch wenn er sich keiner anderen Religion zugewandt hat, sondern einer atheistischen Weltanschauung. 

2. Eine interne Fluchtalternative liegt nicht vor, da davon auszugehen ist, dass im gesamten Land kein dauerhafter Schutz für atheistische Afghanen besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Atheisten, Apostasie, Sunniten, Paschtunen, Flüchtlingsanerkennung, interne Fluchtalternative, Schiiten,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht ein Anspruch gegenüber der Beklagten auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG zu; der entgegenstehende Bescheid des Bundesamtes vom 01.12.2016 ist rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und war aufzuheben (vgl. § 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

[...]
Gemessen an diesen Maßstäben befindet sich der Kläger sowohl aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen der Abkehr vom islamischen Glauben allgemein, welche auch vom Grundrecht auf Religionsfreiheit geschützt ist, als auch aufgrund begründeter Furcht vor Verfolgung insbesondere seitens der Verwandten seiner Ehefrau, die die Ehe ihres Familienmitglieds mit einem Atheisten nicht dulden können, außerhalb seines Heimatlandes. Aufgrund seines Abfalls vom islamischen Glauben und seiner offen atheistischen Weltanschauung droht dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. Das Gericht ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass er im Fall seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen ausgesetzt sein würde (a) und für ihn und seine Familie zum einen des Kleinkindes wegen, zum anderen insbesondere aber auch wegen der offen geäußerten Weltanschauung des Klägers kein interner Schutz besteht (b).

Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass er als früherer Sunnit, der heimlich und gegen den Willen ihrer Familie eine Schiitin zur Ausreise überredet und geheiratet hat, von Seiten der Verwandtschaft seiner jetzigen Ehefrau massive Verfolgungsmaßnahmen zu befürchten hätte, die ebenfalls an seiner in deren Augen falschen Weltanschauung anknüpfen würden und gegen die er keinen staatlichen Schutz erhalten wurde.

(a) Eine Abwendung vom Islam kann eine Verfolgungsgefahr begründen (vgl. OVG NRW, B. v. 27.04.2016 - 13 A 854/16.A -, juris Rn. 18), auch bei Hinwendung zu keiner anderen Religion, sondern vielmehr zu einer atheistischen Weltanschauung (vgl. VG Berlin; U. v. 13.04.2018 - VG 10 K 529.17 A -, Rn. 34, juris; VG Magdeburg. 1 t. v. 30.09.2014 - 5 A 193/13 -, juris).

Nach den demnach hier anzuwendenden Kriterien ist für eine Anerkennung als Fluchtgrund gefordert. dass der Asylbewerber seine Weltanschauung bzw. seine Abkehr vom islamischen Glauben - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde (vgl. zu den entsprechenden Kriterien für die Hinwendung zu einem neuen Glauben: BVerwG, U. v. 20.02 2013 - 10 C 23.12 -. juris). Entscheidend ist, ob die weltanschauliche Abkehr vom Islam für den Betroffenen zur Wahrung seiner Identität besonders wichtig ist und nicht nur etwa deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen. Eine Strafverfolgung bzw. unmenschliche oder erniedrigende Behandlung muss dem Betroffene jedenfalls aber auch tatsächlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urt. v. 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, juris Rn. 32). […]

Der Kläger hat nach den o.g. Maßstäben seine kontinuierliche und endgültige Abkehr vom Islam überzeugend dargelegt. Er hat das Gericht aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Gesamteindrucks davon überzeugt, dass sein bereits in Afghanistan während seines Studiums der Medizin vollzogener Abfall vom muslimischen Glauben mittlerweile dergestalt identitätsprägend ist, dass davon auszugehen ist, dass er seine atheistischen Weltanschauung bei einer Rückkehr in sein Heimatland leben und praktizieren wird. […]

(b) Für den Kläger besteht auch bereits daher keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er 1. in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und 2. sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Von einem Antragsteller kann vernünftigerweise erwartet werden, sich an einem verfolgungssicheren Ort niederzulassen. wenn er dort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet und sein Existenzminimum gesichert ist. Für den Kläger fehlt es hier bereits an einem sicheren Landesteil. Die oben geschilderten gesellschaftlichen Verhältnisse bestehen im gesamten Land, auch in der Stadt Kabul oder in Herat. Zwar mögen insbesondere nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes Repressionen in städtischen Gebieten aufgrund der größeren Anonymität weniger als in Dorfgemeinschaften zu befürchten sein. Selbst dort gibt es aber für atheistische Afghanen auf Dauer keinen Schutz vor Übergriffen Privater (vgl. VG Magdeburg, a.a.O., m.w.N.). Eine Verheimlichung oder gar Leugnung seine atheistischen Glaubensüberzeugung kommt für den Kläger nicht in Betracht, da es - wie er im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen hat – seine vom starken Wunsch nach Freiheit und großer Toleranz geprägte Einstellung zum Leben und seiner von Überzeugung getragene Ablehnung der Teilnahme an religiösen islamischen Riten und damit seine negative Glaubensfreiheit verletzen würde.

Auch würde der Kläger. der mit Familie mit Kleinkindern nach Afghanistan zurückkehren würde, nirgendwo in Afghanistan, auch nicht in Kabul oder Herat, eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden, da er aufgrund seiner Weltanschauung kaum irgendwo längere Zeit als Arzt würde arbeiten und das Existenzminimum der Familie würde sichern können, wenn er überhaupt eine Anstellung fände. [...]