VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 18.07.2018 - 2 A 392/16 - asyl.net: M26671
https://www.asyl.net/rsdb/M26671
Leitsatz:

Yeziden aus dem Sindjar-Gebiet haben weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, noch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, noch auf Feststellung, dass in ihrem Fall Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Irak, Sindschar, Yeziden, Kurden, Flüchtlingsanerkennung, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, Sindjar,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

30 Gemessen hieran geht das Gericht davon aus, dass der Kläger vorverfolgt aus seiner Heimat ausgereist ist. Er und seine Familie sind an dem Tag aus ihrem Heimatort geflohen, als der IS diesen Ort überfallen hat. Ihnen drohte, anknüpfend an ihre Religion als Yeziden, unmittelbar der Tod, mindestens aber menschenrechtswidrige Behandlung durch den IS. Dies kann als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Es gibt indes stichhaltige Gründe für die Annahme, dass eine solche Verfolgung ihm bei einer Rückkehr in den Irak nicht erneut droht.

31 Am 3. November 2017 wurden die letzten drei irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, von den irakischen Streitkräften zurückerobert und laut der US- geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 % jener irakischen Territorien verloren, welche er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl –BFA-, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, vom 24.08.2017 Stand: 23.11.2017, Seiten 8, 18, 20 und 48 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, vom 12.02.2018, Stand: Dezember 2017 im Folgenden Lagebericht AA, S. 4). Lediglich kleinere Wüstengebiete an der Grenze zu Syrien stehen noch unter Kontrolle des IS (vgl. hierzu das täglich aktualisierte Kartenmaterial unter isis.liveuamap.com, abgerufen am 18.07.2018). In der Heimatprovinz des Klägers Ninawa befinden sich möglicherweise noch einzelne Schläferzellen der Terroristenorganisation, die auch vereinzelt Anschläge verüben; von diesen Teilen des IS geht indes nicht mehr eine politische Verfolgung im Sinne von § 3a i.V.m. § 3b AsylG aus. Es mögen einzelne terroristische Attentate stattfinden für die fortbestehende Annahme einer Gruppenverfolgung fehlt es indes an der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte. Auch wäre der irakische Staat mittlerweile im Sinne von § 3d AsylG willens und in der Lage gegen derartige Übergriffe Schutz zu bieten.

32 Diese Einschätzung schließt sowohl die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3, wie auch die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aus (zum subsidiären Schutz a.A. VG Hannover, Urteil vom 25.04.2018 – 6 A 10814/17 -, juris RN 44 ff.; wie hier, VG Hamburg, Urteil vom 20.02.2018 – 8 A 7173/16 -, juris RN 47 ff.).

33 Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass dem Kläger bei seiner Rückkehr in den Irak die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht. Soweit der Kläger sich vor Handlungen des IS fürchtet, gilt das oben zu der Gefahr einer Verfolgung Ausgeführte entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt.

34 Auch eine ernsthafte individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegt im Fall des Klägers nicht vor. [...]

36 Für den Sindjar-Distrikt ist ein solcher internationaler oder innerstaatlicher Konflikt nicht anzunehmen. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte – wie dargelegt – landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Soweit der IS noch Selbstmordattentate und andere Anschläge verübt hat, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (vgl. BFA, a.a.O. Stand: 23.11.2017, S. 57 f.) und soweit die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten noch prekär ist, da diese durch so genannte IEDs (improvisierte Sprengsätze) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt sind (vgl. BFA, a.a.O., S. 56), handelt es sich dabei um Einzelfälle, die jedenfalls kein solches Ausmaß erreichen, dass die Lage als innerstaatlicher Konflikt zu qualifizieren wäre. Dem steht auch nicht entgegen, dass es darüber hinaus im Distrikt Sindjar gezielte Luftangriffe der türkischen Luftwaffe gegeben hat, die gegen Stellungen der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei PKK gerichtet waren, wobei auch ein Ausbildungslager der jesidischen YBS-Milizen zerstört worden sein soll (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, 2.2.2017). Denn zum einen handelt es sich dabei um einen Konflikt, der nur zwischen den türkischen Sicherheitskräften einerseits und der PKK sowie der ihnen nahestehenden YBS-Milizen andererseits besteht, wenngleich es dabei zu Todesopfern – mindestens auch einem zivilen – gekommen sein soll (vgl. ebda.). Denn auch insofern ist die Schwelle im Hinblick auf Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts nicht ausreichend, um einen internationalen oder innerstaatlichen Konflikt in der Provinz Ninawa annehmen zu können.

37 Dem Kläger droht darüber hinaus auch keine staatliche oder nichtstaatliche Verfolgung deshalb, weil er gehindert würde, an seinen Heimatort zurückzukehren. In einer solchen Verfolgung läge eine neue Verfolgung, die nicht in einem inneren Zusammenhang mit der vom IS ausgehenden stünde. Nach der o.a. Rechtsprechung gilt infolgedessen nicht die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie für den Kläger. Es müsste daher eine solche Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dies ist nicht der Fall.

38 Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Auskunftsquellen gibt es zwar teilweise willkürliche Maßnahmen, um die Rückkehr von Flüchtlingen in die ehemals vom IS beherrschten Gebiete zu verhindern. Es handelt sich nach den Auskunftsquellen jedoch nicht um flächendeckende, und damit jeden treffen könnende, Maßnahmen, bei denen zu den nicht deutlich wird, ob sie an ein asylerhebliches Merkmal, wie die Religion, anknüpfen. Vielmehr können dahinter, wie einige Auskunftsquellen belegen, auch reine Sicherheitsbedenken stehen.

39 So heißt es im aktuellen Lagebericht AA, auch nach der Befreiung der Gebiete vom IS werde die Rückkehr durch fehlenden Wiederaufbau, unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeit und die Anwesenheit schiitischer Milizen erschwert. Nach dem UNHCR Positionspapier zur Rückkehr in den Irak vom 14. November 2016 gibt es auch nach der Rückgewinnung der Provinz Ninawa vom IS vielfache Zuzugsbeschränkungen. Genannt wird hierbei die Pflicht, einen Bürgen zu benennen. Allerdings bezieht sich die Auskunftslage im Wesentlichen auf Sunniten und Turkmenen. Nach dem Menschenrechtsreport von amnesty international für das Jahr 2017 hätten 10.000 von Binnenvertriebene nach langwierigen Sicherheitsüberprüfungen in ihre Heimat zurückkehren können. Dies sei jedoch Zehntausenden von Sunniten, die aus den Provinzen Babil, Diyala und Salah al Din stammten unmöglich gemacht. Auch das BFA berichtet in seinen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak vom 24.08.2017 davon, dass die Bewegungsfreiheit vertriebener Sunniten und Turkmenen willkürlich eingeschränkt werde (vgl. Seite 150). Hintergrund sei indes die Sorge vor yezidischen Racheakten an diesem Personenkreis. Ferner heißt es dort, dass an manchen Orten die PMF-Kräfte keine Einwohner zurückließen. Hier könnten Stammeskonflikte und Rachefeldzüge eine Rolle spielen. [...]

43 Schließlich vermag sich der Kläger nicht auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berufen. [...]

45 Nach Maßgabe dieser – strengen – Anforderungen besteht kein Abschiebungsverbot aufgrund der humanitären Bedingungen im Irak.

46 Nach der Erkenntnislage des Gerichts besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Mio. der 36 Mio. Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt worden sind. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90 v.H. der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Die Lebensbedingungen von 57 v.H. der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Schon im Juni 2013 sind vier Millionen Iraker unterernährt gewesen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört (vgl. Lagebericht AA 2017, S. 22).

47 Indes lassen die jüngsten Entwicklungen die Lage spezielle für das Sindjar-Gebiet in einem besseren Licht erscheinen, so dass von einer Verletzung des Art. 3 EMRK für den Kläger nicht ausgegangen werden kann. Der UN Security Council berichtet unter dem 17.04.2018 davon, dass in Zusammenarbeit mit Regierungsstellen und Nichtregierungsorganisationen Rückkehrkomitees eingerichtet worden seien, damit die Rückkehr in die befreiten Gebiete freiwillig, sicher und würdevoll erfolgen könne (S. 11). Dabei gebe es fünf strategische Vorrangregionen; eine davon sei der westliche Teil von Ninawa, also die Sindjar-Region. Das Auswärtige Amt stellt in seinem aktuellen Lagebericht fest, dass nach und nach ein Großteil der Binnenvertriebenen in die vom IS befreiten Gebiete zurückkehre, bis Oktober 2017 2,33 Mio. Gründe für eine Nichtrückkehr seien überwiegend mangelnde Sicherheit, Kontaminierung durch Sprengfallen, Bedrohung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure, sowie innergesellschaftliche Spannungen. Nicht als Ursache benannt wird indes eine existenzgefährdende wirtschaftliche Lebenssituation. [...]