LSG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 19.12.2018 - L 3 AL 193/18 B ER - asyl.net: M26918
https://www.asyl.net/rsdb/M26918
Leitsatz:

Asylsuchenden mit einer Aufenthaltsgestattung, die sich seit mindestens fünfzehn Monaten in Deutschland aufhalten, eine anerkannte Berufsausbildung absolvieren und bei denen keine eine Duldung ausschließenden Umstände vorliegen, steht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe zu.

(Leitsätze der Redaktion; vorgehend und bestätigend: SG Lübeck, Beschluss vom 09.10.2018 - S 36 AL 172/18 - asyl.net: M26645)

Schlagwörter: Ausbildungsförderung, Asylverfahren, Berufsausbildungsbeihilfe, Asylsuchende, Asylverfahren, Ausbildung, Berufsausbildung, ausbildungsbegleitende Hilfe, Afghanistan, Bleibeperspektive, Schutzquote, einstweilige Anordnung, Anerkennungsquote, Aufenthaltsgestattung, dauerhafter Aufenthalt, rechtmäßiger Aufenthalt, Gesamtschutzquote, Ausbildungsbeihilfe, Ausbildungsduldung, Sozialrecht,
Normen: SGG § 86b Abs. 2 S. 2, SGB III § 132 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, SGB III § 59, SGB III § 56, SGB III § 122, SGB III § 132, AufenthG § 18a Abs. 1 Bst. a, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 4, AufenthG § 44 Abs. 4 S. 2,
Auszüge:

[...]

Aus der systematischen und teleologischen Auslegung des § 132 Abs. 1 und 2 SGB III in Verbindung mit § 59 Abs. 2 SGB III ist entnehmbar, dass auch für Gestattete mit 15-monatiger Aufenthaltsdauer, dem Absolvieren einer anerkannten Berufsausbildung und beim Fehlen von eine Duldung ausschließenden Umständen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf Förderung durch Berufungsausbildungsbeihilfe zusteht.

Nach § 132 Abs. 1 SGB III gehören Ausländer, bei denen ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten ist, zum förderungsfähigen Personenkreis, wenn ihr Aufenthalt seit mindestens 15 Monaten gestattet ist.

§ 132 SGB III soll die Eingliederung von Ausländern in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft durch eine frühzeitige Unterstützung der Berufsausbildung fördern. Der Zugang zu Leistungen ist in Abhängigkeit von Aufenthaltsstatus an unterschiedliche Voraufenthaltszeiten geknüpft. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III, einer privilegierenden und befristeten Sondervorschrift, § 132 Abs. 4 SGB III, liegen aber vor. Ein dauerhafter und rechtmäßiger Aufenthalt kann auch beim Absolvieren einer qualifizierten Berufsausbildung bei Gestatteten erwartbar sein, wenn sie nicht aus einem Herkunftsland mit hoher Schutzquote kommen.

Dem Antragssteller ist seit 15 Monaten der Aufenthalt gestattet. Mit der Aufnahme der Berufsausbildung ist er von dem Anspruch auf Analogleistungen, § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz, nach § 22 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch ausgeschlossen.

Eine gesetzliche Definition, wann ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten ist, ist im SGB III nicht normiert. Es handelt sich um einen unbestimmten und gerichtlich voll überprüfbaren Rechtsbegriff (vgl. Bienert, info also 2018, 104; Lehner: Gehen oder Bleiben, Der Gesetzgeber kann sich nicht entscheiden, www.verfassungsblog.de/gehen-oder-bleiben-der-gesetzgeber-kann-sich-nicht-entscheiden/), dessen Auslegung sich an allgemeinen Kriterien zu orientieren hat.

Der Wortlaut "dauerhaft" gibt keinen Hinweis, welche Zeitspanne erfasst sein soll. Ob mit rechtmäßig allein - der aufgrund materiellen Aufenthaltsstatus Bleibende, - der aufgrund unanfechtbarer Feststellung des Aufenthaltsstatus Bleibende - oder auch der den in Folge einer Aussetzung der Abschiebung Bleibende gemeint ist, ergibt sich nicht. Zwar sind Letztere ausreisepflichtig. Auch die Aussetzung der Abschiebung hat aber die Wirkung, dass der ausreisepflichtige Ausländer nicht abgeschoben werden darf (Kluth/Breidenbach, BeckOK Ausländerrecht, § 60a Rn. 6). Im Fraktionsentwurf des Gesetzes, BT-Drs. 18/8615, S. 31, wird auf das Ziel abgestellt, Gestatteten im Asylverfahren mit guter Perspektive als Asylberechtigte anerkannt zu werden und damit in Deutschland bleiben zu können, den Zugang zu den in Absatz 1 genannten Maßnahmen eröffnen zu wollen. Auch dort ist nicht bestimmt, anhand welcher Kriterien diese gute Perspektive zu bestimmen ist.

In systematischer Betrachtung findet sich dieselbe Formulierung eines rechtmäßigen und dauerhaften Aufenthalts in § 44 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes. Dieser regelt die Berechtigung zur Teilnahme an einem Integrationskurs für Ausländer mit Aufenthaltsgestattung. Nach der Gesetzesbegründung dieser Vorschrift, BT-Drs. 18/6185, S. 48, sollen Asylbewerber erfasst sein, - die aus einem Land mit hoher Anerkennungsquote kommen oder - bei denen eine belastbare Prognose für einen erfolgreichen Asylantrag besteht. Der Gesetzgeber selbst führt nicht aus, ab welchem Wert eine Anerkennungsquote eine hohe Quote sein soll und was, als Alternativvariante, die belastbare Prognose für einen erfolgreichen Asylantrag begründen soll. Auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jelpke und weiterer Abgeordneter (BT-Drs. 18/13329, S. 18) führte die Bundesregierung aus:

"Ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt ist einzelfallunabhängig zu erwarten, wenn der oder die Asylsuchende aus einem Herkunftsland stammt, bei dem mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass eine Schutzberechtigung erteilt wird. Bei dieser lediglich abstrakten Prognoseentscheidung ist maßgeblich, dass die Gesamtschutzquote über 50 Prozent liegt und ihr eine hinreichende Aussagekraft zukommt, was eine relevante Anzahl von Antragsstellern voraussetzt. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 28 verwiesen."

Diese Antwort verbindet die in der Gesetzesbegründung genannten Alternativen zu einer insgesamt abstrakten Prognoseentscheidung, für die maßgeblich sein soll, dass die Gesamtschutzquote über 50 Prozent liegt. Auf dieser Grundlage sowie der Entwurfsbegründung zu § 44 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz wird vertreten, dass ausschließlich eine abstrakte Prognose und einzelfallunabhängige Entscheidung anhand einer Gesamtschutzquote über 50% zu treffen sei (vgl. VGH München, Beschluss vom 21.2.2017, 19 CE 16.2204, vgl. die Einschätzung der Bundesregierung zu der o.g. Anfrage, LSG NW, Beschluss vom 19.4.2018, L 9 AL 227/17). Diese sei nur bis zu einer Entscheidung des Bundesamtes heranzuziehen, denn dann liege eine Einzelfallwürdigung vor, die bei der Anwendung des § 44 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz grundsätzlich nicht zu prüfen sei (VGH München aaO, dem folgend, LSG NW aaO; Buser, in Eicher/Schlegel, SGB III, Loseblatt, Stand 161. Ergänzungslieferung Mai 2018, § 132, Rn. 30).

Zweifel an dieser Operationalisierung sind daraus zu begründen, dass damit die genannten Alternativen aus der Gesetzesbegründung nicht ausschöpft sind. Wenn ein Land mit hoher Anerkennungsquote ein solches mit einer Gesamtschutzquote mit über 50 Prozent ist und für dies die alternativ genannte "belastbare Prognose für einen erfolgreichen Asylantrag" gleichfalls maßgeblich sein soll, tritt kein Unterschied in den in der Begründung genannten Alternativen für einen rechtmäßigen und dauerhaften Aufenthalt (Land mit hoher Anerkennungsquote oder belastbare Prognose für einen erfolgreichen Asylantrag) ein. Mit der Wahl des Wortes "oder" ist jedoch eine alternative, nicht eine kumulative Anbindung aufgenommen. Dies spricht nicht dafür, dass die abstrahierende Auslegung mit einer Gesamtschutzquote dem Regelungsgehalt der Vorschrift entspricht. Dagegen sprechen weiter Gründe der Rechtssicherheit, insbesondere wenn sich die maßgebliche abstrahierende Einordnung allein nach zufälligen Kriterien des Verwaltungsalltags – hier der stark schwankenden Anerkennungspraxis (dazu: Bienert, info also 2018, 104(108); kritisch auch: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 21.2.2017 – 19 CE 16.2204 –, [juris] Rn. 29f. 34) bestimmt. Gegen eine abstrahierende normimmanente Gesamtschutzquote von 50% spricht bei selber Rechtslage die ab 1.7.2017 bis 31.12.2017 erfolgte Zuerkennung einer dauerhaften und rechtmäßigen Aufenthaltsperspektive durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales für Asylsuchende aus Afghanistan trotz Unterschreitens der Gesamtschutzquote. Diese lag im Jahr 2017 bei 44,7%; im Jahr 2018 bis Oktober lag die Gesamtschutzquote für Erstentscheidungen zu Asylanträgen von Personen aus Afghanistan bei 38,9%. Der Unterschied in der Abweichung von 50% zu 44,7 % ist nicht wesentlich größer als der von 44,7% zu 38,9 %. In der abstrahierenden Betrachtung der Gesamtschutzquote sind absolut mehr Asylbewerber nicht anerkannt worden als erfolgreich waren.

Sähe die Norm eine abstrakte Grenze von 50% vor, wäre diese Gesetzesauslegung durch das BMAS aus dem 2. Halbjahr 2017, einen dauerhaften und rechtmäßigen Aufenthalt trotz Unterschreitens der Quote anzunehmen, in den Aussagegehalt eines kalkulierten Rechtsbruchs oder in eine Rechtsänderung ohne Normänderung gerückt. Dies ginge zu weit. Das alleinige Abstellen auf eine bestimmte Gesamtschutzquote gründet die Rechtsanwendung auf eine nicht rechtsverbindliche administrative Gesetzesauslegung. Sie weist neben den Schutzquotenschwankungen den Schwachpunkt auf, dass es der Exekutive ermöglicht ist, die Normanwendung so zu steuern, dass diametral unterschiedliche Ergebnisse resultieren, ohne den Wortlaut der Norm selbst zu ändern und damit ohne dass dies durch eine Entscheidung des Gesetzgebers mit getragen ist (kritisch wegen der Unsicherheit der Zielabwägung auch: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 21. Februar 2017 – 19 CE 16.2204 –, [juris] Rn. 30). Dies ist bei einer Vorschrift, die einen Teilhabeanspruch normiert, aufgrund des Wesentlichkeitsgebots bedenklich. Die abstrahierende Auslegung führt lediglich zu einer Grobsteuerung der Förderungs- und Integrationsmöglichkeiten. Jedenfalls wenn - wie hier - keine grobe Lücke von Asylsuchenden und Asylanerkennungen besteht, würden etwa 40% der berechtigt Schutzsuchenden per se aus der Förderfähigkeit ausgenommen, obwohl ihr Schutzgesuch der Sache nach Erfolg hat und damit tatsächlich eine gute Bleibeperspektive besteht. Diese Auslegung erscheint dem Senat in Bezug auf die in den Gesetzesmaterialien erkennbare Förderungsintention (vgl. Entwurf eines Integrationsgesetzes, BT-Drs. 18/8829, S. 1) und dem Fehlen einer dahingehenden gesetzlich bestimmten (abstrakten) Grenze bedenklich. Zwar steht außer Zweifel, dass der Gesetzgeber selbst eine ausdrückliche derartige Regelung treffen kann. Daran fehlt es aber derzeit, jedenfalls angesichts der alternativen Beschreibung in der Gesetzesbegründung zu demselben Rechtsbegriff.

Bei der Auslegung des § 132 Abs. 1 SGB III ist im Sinne einer Sicherung des Normzwecks nicht allein abstrahierend mit Blick auf die Gesamtschutzquote vorzugehen. Auch vor dem Hintergrund des Diskriminierungsverbots ist eine differenzierende Handhabung gefordert (Schmidt-De Caluwe, in: Mutschler/Schmidt-De Caluwe/ Coseriu, Sozialgesetzbuch III, 6. Auflage 2016, § 132 Rn. 10; vgl. kritisch auch: Lehner: Gehen oder Bleiben, Der Gesetzgeber kann sich nicht entscheiden, www.verfassungsblog.de/gehen-oder-bleiben-der-gesetzgeber-kann-sich-nicht-entscheiden/).

Eine gute Bleibeperspektive besteht, wenn ex ante eine überwiegend wahrscheinliche Aussicht darauf besteht, dass die jeweilige Person den Status als Flüchtling (§§ 3 ff. Asylgesetz) oder einen subsidiären Schutz iSd. § 4 Asylverfahrensgesetz erlangen wird (Schmidt-De Caluwe, in: Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, Sozialgesetzbuch III, 6. Auflage 2016, § 132 Rn. 8). Die Prognose eines erfolgreichen Asylantrags im Sinne des § 132 Abs. 1 SGB III ist nicht ausschließlich auf die Anerkennung einer Asylberechtigung im Sinne des Art. 16a GG zu beziehen. Ein positiver Bescheid ergeht nach Verständnis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge auch bei der Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 3 Asylgesetz, der Zuerkennung des subsidiären Schutzes, § 4 und der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. V und VII Aufenthaltsgesetz (http://www.bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/AblaufAsylv/Entscheidung/entscheidungnode.html). Allen vier Konstellationen ist gemeinsam, dass von einem längerfristigen Aufenthalt in Deutschland für den jeweiligen Adressaten auszugehen ist. Die Alternative in der Gesetzesbegründung für die Annahme eines rechtmäßigen und dauerhaften Aufenthalts aus § 44 Abs. 4 S. 2 Aufenthaltsgesetz, neben der Gesamtschutzquote auf eine belastbare Prognose für einen erfolgreichen Asylantrag anzuknüpfen, bietet daneben Raum, neben der schematischen abstrahierenden Entscheidung die Einzelfallumstände für den dauerhaften und rechtmäßigen Aufenthalt einzustellen (dahingehend auch: SG Leipzig, Beschluss vom 06. Dezember 2018 – S 1 AL 232/18 [juris] Rn,50; erwägend, aber im Einzelfall ablehnend: LSG NW, Beschluss vom 19.4.2018, L 9 AL 2018 Rn. 14, [juris]). [...]