VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.04.2019 - 11 S 2868/18 - asyl.net: M27237
https://www.asyl.net/rsdb/M27237
Leitsatz:

Prüfung von Verstößen gegen Mitwirkungspflichten bei § 25b AufenthG sowohl auf Tatbestands- als auch auf Rechtsfolgenseite:

1. Eine ausreisepflichtige Person ist für die Unmöglichkeit einer Passbeschaffung auch im Verfahren auf Erteilung eines Aufenthaltstitels trotz schwieriger Beweissituation darlegungs- und beweispflichtig, da es sich dabei um eine für sie günstige Tatsache handelt, die in ihrem alleinigem Einflussbereich liegt (im Anschluss an OVG Nordrhein-Westfalen: Beschluss vom 18.09.2006 - 18 A 2388/06 - asyl.net: M9644, Beschluss vom 05.06.2008 - 18 E 471/08 - asyl.net: M13407).

2. Dies gilt auch für die Versagungsnorm des § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, da diese an die allgemeinen Obliegenheiten und Mitwirkungspflichten der ausreisepflichtigen Person anknüpft, die ausschließlich in deren Einflussbereich liegt.

3. Zwar ist gem. § 25b Abs. 1 AufenthG bei Erfüllung der tatbestandlichen Vorrausetzungen und Nichtvorliegen der Versagungsgründe regelhaft von einer gelungenen Integration im Sinne dieser Vorschrift auszugehen. Allerdings bedarf es auf Rechtsfolgenseite - weil es sich bei der Vorschrift um eine Sollbestimmung handelt - einer Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls. Hier ist das bisherige Verhalten der ausreisepflichtigen Person und somit auch frühere Verstöße gegen die Mitwirkungspflichten zu berücksichtigen. Verstöße gegen Mitwirkungspflichten sind somit doppelt zu prüfen, der Ausschlusstatbestand des § 25 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 3 AufenthG entfaltet keine dahingehende Sperrwirkung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bleiberecht, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, Darlegungslast, Beweislast, Integration, atypischer Ausnahmefall, Versagungstatbestand, Sperrwirkung, Versagungsnorm, Passpflicht,
Normen: AufenthG § 25b Abs. 2 Nr. 1 Alt. 3, AufenthG § 3 Abs. 1, AufenthG § 5 Abs. 1, AufenthG § 48 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 25b Abs. 1, AufenthG § 25b, AufenthG 3 5 Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Gemessen hieran, zeigt der Kläger mit seiner Antragsbegründung keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils auf.

Er beruft sich darauf, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht den Versagungsgrund des § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG angenommen habe. Er, der Kläger, habe jedoch auf die Nichtausstellung eines Reisepasses durch die Botschaft Kameruns keinen Einfluss, da die Botschaft das Ergebnis der Klageverfahren abwarten wolle (Mitteilung des Regierungspräsidiums an das Verwaltungsgericht vom 21.02.2018).

Mit diesem Vorbringen werden die tragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts dazu, dass der Kläger (auch aktuell) nicht alles ihm Zumutbare tue, um das Ausreisehindernis des fehlenden Rückreisedokuments zu beseitigen, nicht erfolgreich in Zweifel gezogen. Denn ausweislich der verwaltungsgerichtlichen Akten in diesem (12 K 5834/17), wie auch in den vorangegangenen Verfahren (9 K 2394/14 und 11 S 1562/16), hat der Kläger zu keinem Zeitpunkt substantiiert dargelegt, sich um die Ausstellung eines Ausweispapiers in ausreichender und zumutbarer Weise bemüht zu haben.

§ 3 Abs. 1 AufenthG statuiert die Passpflicht, die zu den Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG gehört. Diese Pflicht wird durch die Mitwirkungsverpflichtungen nach § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG bei der Beschaffung des Identitätspapiers flankiert. Ein ausreisepflichtiger Ausländer hat daher alle zur Erfüllung seiner Ausreisepflicht erforderlichen Maßnahmen, und damit auch die zur Beschaffung eines gültigen Passes oder Passersatzpapiers, grundsätzlich ohne besondere Aufforderung durch die Ausländerbehörde unverzüglich einzuleiten. Zweifel in Bezug auf die Unmöglichkeit einer Passbeschaffung gehen zu Lasten des Ausländers, weil er generell und damit insbesondere auch - wie hier - im Verfahren auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für die ausschließlich seinem Einflussbereich unterliegenden, ihm günstigen Tatsachen darlegungs- und beweispflichtig ist und dies auch in Ansehung einer für ihn möglicherweise schwierigen Beweissituation gilt (OVG NRW, Beschlüsse vom 18.09.2006 - 18 A 2388/06 -, BeckRS 2006, 26479, vom 05.06.2008 - 18 E 471/08 -, juris, und vom 21.08.2014 - 18 A 1668/12 -, BeckRS 2014, 119408).

Etwas Anderes gilt hier nicht, weil § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG als Versagungsnorm ausgestaltet ist. Denn die Vorschrift knüpft an die allgemeinen Obliegenheiten und Mitwirkungspflichten des Ausländers an, die ausschließlich dessen Einflussbereich unterliegen und der Behörde regelmäßig nicht bekannt sein können. Dass der Ausländer diesen Pflichten in ausreichender und zumutbarer Weise nachzukommen versucht hat, hat er daher zunächst darzulegen und gegebenenfalls zu belegen. Erst wenn er die aufgezeigten (üblichen) Mitwirkungshandlungen und Obliegenheiten erfüllt hat, trägt die Ausländerbehörde die Darlegungs- und Beweislast dafür, welche konkreten weiteren und nicht von vorn-herein aussichtslosen Mitwirkungshandlungen der Betroffene zur Beseitigung des Ausreisehindernisses noch unternehmen kann (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18.09.2006, a.a.O., m.w.N.).

Davon ausgehend fehlt es im Fall des Klägers auch mit Blick auf das Zulassungsvorbringen an jeder nachvollziehbaren und damit bewertbaren Darlegung seiner konkreten Bemühungen um die Ausstellung eines Passes oder Passersatzpapieres, und dies durchgängig seit dem Verfahren im Jahre 2014 (vgl. hierzu den Beschluss des Senats vom 22.09.2016 im Verfahren 11 S 1562/16) bis heute. Es liegt davon ausgehend für den Senat auf der Hand, dass das Entscheidungsverhalten der Botschaft Kameruns auf Umständen beruhen kann, die der Kläger beeinflussen könnte, wenn er es denn wollte. Der Senat hatte schon in seinem Beschluss vom 22. September 2016 darauf hingewiesen, dass ein konkreter Vortrag zu Bemühungen des Klägers um die Ausstellung eines Passes umso mehr erforderlich war, als ihm im Jahre 2010 ein National-pass ausgestellt worden war. Daran hat sich nichts geändert. Die nach all dem begründeten Zweifel daran, dass sich der Kläger in ausreichender und zumutbarer Weise um die Ausstellung eines Passes bemüht hat, gehen daher zu seinen Lasten. [...]

Und selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass der Kläger den Ausschlusstatbestand des § 25b Abs. 2 Nr. 1 3. Alt. AufenthG nicht erfüllen würde, wäre sein bisheriges Verhalten bei der Passbeschaffung zu berücksichtigen. Dies zum einen bei der Anwendung des § 25b AufenthG als Sollvorschrift (a) und zum anderen im Rahmen der Prüfung des Vorliegens der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, von der im Ermessenwege abgesehen werden kann (b).

a) In der Ausgestaltung des § 25b Abs. 1 AufenthG als Sollregelung sind atypische Fälle angelegt. Die Vorschrift setzt eine gelungene Integration voraus, die - regelhaft - durch die Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen umschrieben wird. Gleichwohl bedarf es einer Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls. Die damit erforderliche Bewertung ist in der Normstruktur auch im Rahmen der Rechtsfolgenregelung als Sollbestimmung angelegt (vgl. Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 2018, S. 237 Rn. 893, m.w.N.). Eine "Sperrwirkung" des Ausschlusstatbestandes im Falle früherer Verweigerung von Mitwirkungshandlungen lässt sich danach nicht begründen. Mit den ausdrücklich benannten Integrationsforderungen und Versagungsgründen hat der Gesetzgeber den Maßstab für den Regelfall vorgegeben, Ausnahmen sind in der Rechtsfolgenregelung zu verorten (Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, a.a.O., S. 240 Rn. 903). Davon ausgehend lässt sich angesichts des bisherigen Verhaltens des Klägers eine gelungene Integration nicht erkennen. [...]