VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 27.06.2018 - 12 K 3982/16.A - asyl.net: M27306
https://www.asyl.net/rsdb/M27306
Leitsatz:

Flüchtlingsrelevante Verfolgung von Frauen als soziale Gruppe im eritreischen Nationaldienst:

Frauen sind im eritreischen Militärdienst der Gefahr sexueller Gewalt ausgesetzt. Diese knüpft an den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der "Frauen im Nationaldienst" an und ist als staatliche Verfolgung zu qualifizieren.

(Leitsatz der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Eritrea, Upgrade-Klage, Nationaldienst, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, sexuelle Gewalt, staatliche Verfolgung, soziale Gruppe, Diskriminierung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3e, AsylG § 3c Nr. 1, AsylG § 3d Abs. 1 Nr. 1, AylG § 3d Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3a Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Sie ist in Eritrea einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung ausgesetzt.

Der Klägerin droht bei einer Rückkehr beachtlich wahrscheinlich die Einberufung zum Nationaldienst (1.), wo ihr eine Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Absatz 1 Nr. 1, Absatz 2 Nr. 6 AsylG droht (2.) und zwar in Anknüpfung an das Verfolgungsmerkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (3.). Diese Verfolgung geht schließlich von einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG aus, ohne dass interne Schutzmöglichkeiten i.S.v. § 3e AsylG vorliegen (4.).

1. Bei einer Rückkehr nach Eritrea droht der Klägerin beachtlich wahrscheinlich die Einberufung zum Nationaldienst. [...]

2. Auch ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin während des Nationaldienstes Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Absatz 1 Nr. 1, Absatz 2 Nr. 6 AsylG ausgesetzt wäre. [...]

Nach § 3a Absatz 2 Nr. 6 AsylG gelten als Verfolgung auch Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

Fälle von sexueller Gewalt, insbesondere Vergewaltigungen, die ernsthafte körperliche und psychische Schmerzen und Leiden hervorrufen und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau, insbesondere ihre Selbstbestimmung zur freien Lebensgestaltung einschließlich ihres sexuellen Verhalten verletzen, fallen eindeutig hierunter (vgl. hierzu auch Marx, Kommentar zum AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3a, Rn. 45 f. m.w.N.; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 26 Rn. 54 ff.).

Nach den Erkenntnissen des Gerichts ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer Einberufung zum Nationaldienst sexueller Gewalt ausgesetzt wäre. [...]

3. Die vorstehend dargestellten Verfolgungshandlungen drohen der Klägerin auch wegen eines Verfolgungsgrundes im Sinne des § 3b AsylG, nämlich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der der Frauen im Nationaldienst (vgl. § 3b Absatz 1 Nr. 4 AsylG) (vgl. auch VG Schwerin, Urteil vom 8. Dezember 2017 – 15 A 1278/17 As SN –, juris; VG Kassel, Urteil vom 24. Februar 2010 – 1 K 1217/09.KS.A –, S. 12 des Urteilabdrucks, n.V.; a.A. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 7. März 2018 – 1a K 4738/17.A –, S. 14 des Urteilabdrucks, n.V.).

Eine Gruppe gilt nach § 3b Absatz 1 Nr. 4 AsylVfG insbesondere dann als eine "bestimmte soziale Gruppe", w enn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zudem muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Diese Abgrenzbarkeit muss schließlich schon vor der in Rede stehenden Verfolgung bestehen. Überdies kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft.

Nach diesen Maßstäben stellt die Gruppe der Frauen im Nationaldienst eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne der Vorschrift dar. [...]

4. Die Verfolgung von Frauen im Nationaldienst geht auch vom eritreischen Staat, einem Akteur im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG aus. Maßgeblich sind dabei die Handlungen aller staatlichen Organe. Insoweit kommt es alleine darauf an, dass sich der Staat der Personen zur Herrschaftsausübung bedient (vgl. Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, § 3c AsylG, Rn. 2; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 16 Rn. 19 f. m.w.N.).

Da letzteres im Hinblick auf militärische Vorgesetzte der Fall ist, ist deren Verhalten dem eritreischen Staat zuzurechnen, zumal hierbei auch nicht mehr von einzelnen Amtswalterexzessen gesprochen werden kann (vgl. auch VG Kassel, Urteil vom 24. Februar 2010 – 1 K 1217/09.KS.A –, S. 12 des Urteilabdrucks, n.V.).

Inwieweit auch das Handeln "einfacher" Soldaten im Nationaldienst dem Staat zuzurechnen ist, kann dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls handelt es sich insoweit um nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG, ohne dass ein Schutzakteur im Sinne von § 3d Absatz 1 AsylG vorliegt, der willens und in der Lage ist, Schutz gemäß § 3d Absatz 2 AsylG zu bieten. [...]

Schließlich liegen auch keine landesinternen Schutzalternativen vor [...]