OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Beschluss vom 01.08.2019 - 3 EO 276/19 - asyl.net: M27621
https://www.asyl.net/rsdb/M27621
Leitsatz:

Abschiebungsschutz bei Suizidgefahr:

"Ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Sinne des § 10 Abs. 1 AufenthG muss ein strikter Rechtsanspruch sein, der sich unmittelbar und abschließend aus dem Gesetz ergibt, also wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat (im Anschluss an: BVerwG, Urteile vom 17.12.2015 - 1 C 31.14 - juris Rdn. 20 und vom 10.12.2014 - 1 C 15.14 - juris Rdn. 15).

Im Falle eines aufgrund einer psychischen Erkrankung suizidgefährdeten Ausländers geht es nicht nur darum, während des eigentlichen Abschiebungsvorgangs selbstschädigende Handlungen zu verhindern; eine Abschiebung hat auch dann zu unterbleiben, wenn sich durch den Abschiebevorgang die psychische Erkrankung (wieder) verschlimmert, eine latent bestehende Suizidalität akut wird und deshalb die Gefahr besteht, dass der Ausländer unmittelbar vor oder nach der Abschiebung sich selbst tötet (im Anschluss an: OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.06.2016 - 2 M 16/16 - juris Rdn. 4).

Für die Beurteilung, ob solche Umstände bestehen, die einer Abschiebung entgegenstehen, ist zu beachten, dass nach dem mit Wirkung vom 17. März 2016 eingeführten § 60a Abs. 2c AufenthG gesetzlich vermutet wird, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn nicht der Ausländer eine im Rahmen der Abschiebung beachtliche Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft macht.

Der fachärztliche Bericht ist zum Beweis für eine Reiseunfähigkeit nur geeignet, wenn er nachvollziehbar die Befundtatsachen angibt, gegebenenfalls die Methode der Tatsachenerhebung benennt und nachvollziehbar die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes sowie die Folgen darlegt, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich in Zukunft ergeben, wobei sich Umfang und Genauigkeit der erforderlichen Darlegung jeweils nach den Umständen des Einzelfalls richten (im Anschluss an: Bayerischer VGH, Beschluss vom 05.07.2017 - 19 CE 17.657 - juris Rdn. 22 f.)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Visumsverfahren, Reisefähigkeit, Reiseunfähigkeit, Attest, Beweislast, Darlegungslast, Duldung,
Normen: AufenthG § 10 Abs. 1, AufenthG § 10 Abs. 3, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 60a Abs. 2c, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, GG Art. 6, VwGO § 123
Auszüge:

[...]

Im vorliegenden Fall greift jedoch die Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 1 AufenthG. Danach kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, vor dem bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens ein Aufenthaltstitel außer in den Fällen eines gesetzlichen Anspruchs nur mit Zustimmung der obersten Landesbehörde und nur dann erteilt werden, wenn wichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland es erfordern.

Wie ausgeführt, ist über den Asylantrag der Antragstellerin noch nicht bestandskräftig entschieden. Sie hat auch keinen gesetzlichen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels. Ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Sinne dieser Norm muss ein strikter Rechtsanspruch sein, der sich unmittelbar und abschließend aus dem Gesetz ergibt, also wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 17.12.2015 - 1 C 31.14 - Juris Rdn. 20 und vom 10.12.2014 - 1 C 15.14 - Juris Rdn. 15).

So liegt es hier. Ein zuletzt von der Antragstellerin geltend gemachter Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist, ungeachtet dessen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm überhaupt vorliegen, lediglich eine Kann- bzw. Sollbestimmung und mithin kein zwingender gesetzlicher Anspruch (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.2015 - 1 C 31.14 - Rdn. 20). Dies gilt ebenfalls für den von der Antragstellerin geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Zwar liegen dessen  Tatbestandsvoraussetzungen vor, jedoch fehlt es an der auch insoweit beachtlichen allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 AufenthG mangels eines Visumverfahrens bei Einreise. Von dieser Voraussetzung kann hier allenfalls im Rahmen einer Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden, sodass auch in diesem Fall kein gebundener Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.12.2014 - 1 C 15.14 - Juris Rdn. 19). [...]

d. Auch die im Beschwerdeverfahren behauptete Suizidgefahr der Antragstellerin steht einer Abschiebung nicht entgegen.

Ein rechtliches Abschiebungshindernis liegt vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr zu befürchten ist, sodass die Abschiebungsmaßnahme wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten grundrechtlichen Schutzes auszusetzen ist. Erforderlich ist dabei, dass infolge der Abschiebung als solches (unabhängig vom konkreten Zielstaat) eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes für den betroffenen Ausländer konkret folgt (vgl. hierzu wie auch zum folgenden: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.08.2017 - 11 S 1724/17 - juris Rdn. 27; Bayerischer VGH, Beschluss vom 05.07.2017 - 19 CE 17.657 - juris Rdn. 20 ff.; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.06.2016 - 2 M 16/16, juris Rdn. 4; alle jeweils m.w.N.). [...]

Für die Beurteilung, ob solche Umstände bestehen, die einer Abschiebung entgegenstehen, ist jedoch zu beachten, dass nach dem mit Wirkung vom 17. März 2016 (Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.03.2016 - BGBI. I S. 390 -) eingeführten § 60a Abs. 2c AufenthG gesetzlich vermutet wird, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn nicht der Ausländer eine im Rahmen der Abschiebung beachtliche Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft macht (vgl. zur Gesetzesbegründung: Bundestag-Drucksache 18/7538, S. 18 ff.). Die ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation  voraussichtlich ergeben, enthalten. Legt demnach der Ausländer fachärztliche Berichte vor, sind diese zum Beweis für eine Reiseunfähigkeit nur geeignet, wenn sie nachvollziehbar die Befundtatsachen angeben, gegebenenfalls die Methode der Tatsachenerhebung benennen und nachvollziehbar die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes sowie die Folgen darlegen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich in Zukunft ergeben, wobei sich Umfang und Genauigkeit der erforderlichen Darlegung jeweils nach den Umständen des Einzelfalls richten (Bayerischer VGH, Beschluss vom 05.07.2017 - 19 CE 17.657 - juris Rdn. 22 f.). [...]

Ist eine die Abschiebung beeinträchtigende Erkrankung nicht durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht und die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit damit nicht widerlegt, kommt eine Aussetzung der Abschiebung regelmäßig nicht in Betracht. Eine Ermittlungspflicht der Ausländerbehörde besteht in diesen Fällen darüber hinausgehend grundsätzlich nicht. Etwas anderes gilt aber dann, wenn konkrete tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde (OVG Sachsen, Beschluss vom 19.03.2019 - 3 B 430/18 - juris Rdn. 9; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.08.2017 - 11 S 1724/17 - juris Rdn. 31; Bayerischer VGH, Beschluss vom 05.07.2017 - 19 CE 17.657 - juris Rdn. 27). Diese weiterhin bestehende Verpflichtung ergibt sich aus der Bestimmung des § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG (OVG Saarland, Beschluss vom 13.12.2017 - 2 M 81/17 - juris Rdn. 19; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.06.2016 - 2 M 16/16, juris Rdn. 21). Ist dies der Fall, ist die Ausländerbehörde nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, diese Anhaltspunkte zu berücksichtigen und gegebenenfalls eine (erneute) ärztliche Untersuchung anzuordnen, die hinreichenden Aufschluss darüber gibt, ob der Ausländer an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen leidet und diese sich im Fall einer Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. [...]

Allerdings weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass die Behörde auch im weiteren Abschiebungsverfahren verpflichtet ist, jederzeit die gesundheitliche Situation der Antragstellerin zu beobachten und gegebenenfalls Feststellungen durch fachärztliche Gutachten selbst herbeizuführen bzw. gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen, um das Risiko einer schwerwiegenden Gesundheitsgefährdung entgegen zu wirken (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.09.2014 - 2 BvR 732/14 - juris Rdn. 10). [...]