BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 17.09.2019 - 1 B 43.19 - asyl.net: M27759
https://www.asyl.net/rsdb/M27759
Leitsatz:

Voraussetzungen der Ladung eines Sachverständigen zur Erläuterung des Gutachtens

1. Es bedarf nicht der Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, dass die Feststellung einer allgemeinen Änderung der innenpolitischen Verhältnisse im Heimatland nicht erst dann als "stichhaltiger Grund" i.S.d. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für die Widerlegung der Verfolgungsvermutung herangezogen werden kann, wenn auch die Dauerhaftigkeit dieser Änderung i.S.d. dazu bei der Bestimmung des Wegfalls der Umstände im Rahmen des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU entwickelten Grundsätze festgestellt wird.

2. Das Erscheinen eines gerichtlich bestellten Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens ist anzuordnen, wenn ein Beteiligter dies hinreichend substantiiert beantragt. Im gerichtlichen Asylverfahren ergeben sich für den Antrag an die Vielzahl auszuwertender Erkenntnismittel angepasste, besondere Anforderungen. Der mögliche Erkenntnisgewinn, der durch die Erläuterung in der mündlichen Verhandlung erstrebt wird, ist in hinreichender Auseinandersetzung mit den weiteren in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln zu umreißen. Der Antrag muss auch eine klare Beurteilung zulassen, ob die Erläuterung eines bereits schriftlich abgegebenen Gutachtens erstrebt wird oder dessen Fortschreibung, Ergänzung oder Aktualisierung.

3. Das Gericht kann einen Beweisantrag auf Einholung weiterer Auskünfte unter Berufung auf eigene Sachkunde verfahrensfehlerfrei ablehnen. Wie konkret das Gericht seine eigene Sachkunde nachweisen muss und inwieweit sich diese aus dem Gesamtinhalt der Entscheidungsgründe und der verarbeiteten Erkenntnisquellen ableiten lässt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab; der Nachweis muss jedenfalls plausibel und nachvollziehbar sein (stRspr, s. etwa BVerwG, Beschluss vom 19. September 2001 - 1 B 158.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 315 S. 21).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Äthiopien, Änderung der Sachlage, Wegfall der Umstände, Dauerhaftigkeit, Erheblichkeit, stichhaltige Gründe, Beweiserleichterung, Vorverfolgung, Qualifikationsrichtlinie, Beweisantrag, Sachverständigengutachten, Prozessrecht, Asylverfahrensrecht,
Normen: VwGO § 98, VwGo § 97, ZPO § 411 Abs. 3, ZPO § 412, RL 2011/95 Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

9 [...] Denn diese Frage lässt sich auf der Grundlage des Wortlauts der Richtlinie 2011/95/EU mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Interpretation und auf der Grundlage der ergangenen Rechtsprechung ohne Weiteres beantworten (acte clair), ohne nach Art. 267 AEUV klärungsbedürftige Fragen des Unionsrechts aufzuwerfen.

10 3.1 Bereits der Wortlaut der beiden Vorschriften liefert keinen Anhaltspunkt für die Annahme, das Merkmal "stichhaltige Gründe" in Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU sei im Lichte der Kriterien der Erheblichkeit und Dauerhaftigkeit im Sinne des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU auszulegen.

11 Nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU begründet das Erleiden oder Drohen einer Vorverfolgung oder eines sonstigen ernsthaften Schadens nur dann eine widerlegliche tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden, sofern nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird ("unless there are good reasons to consider that such persecution or serious harm will not be repeated"/"sauf s’il existe de bonnes raisons de penser que cette persécution ou ces atteintes graves ne se reproduiront pas"). Demgegenüber rechtfertigt Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU die Annahme eines Wegfalls der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f RL 2011/95/EU nur dann, wenn die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann ("the change of circumstances is of such a significant and non-temporary nature that the refugee’s fear of persecution can no longer be regarded as wellfounded"/"le changement de circonstances est suffisamment significatif et non provisoire pour que la crainte du réfugié d’être persécuté ne puisse plus être considérée comme fondée").

12 Während die Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU durch diese beiden Kriterien eine Präzisierung sowohl in qualitativer als auch in zeitlicher Hinsicht erfährt, konkretisiert das Adjektiv "stichhaltig" die Gründe im Sinne des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU allein in qualitativer Hinsicht.

13 3.2 Die Richtliniensystematik schließt eine Übertragung der Prüfungsmaßstäbe des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU auf Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ebenfalls aus. [...]

15 3.3 Die unterschiedliche Funktion der beiden Normen spricht durchgreifend gegen eine Konkretisierung des Begriffs der stichhaltigen Gründe im Sinne des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU unter Rückgriff auf die Merkmale der Erheblichkeit und der Dauerhaftigkeit im Sinne des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU.

16 Die stichhaltigen Gründe im Sinne des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU dienen der Entkräftung einer den Antragsteller privilegierenden Beweislastregel, an die sich - auch bei festgestelltem Wegfall der Privilegierung - eine umfassende Prüfung der geltend gemachten Schutzgründe anzuschließen hat. Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU konkretisiert hingegen die erheblichen und nicht nur vorübergehenden Umstände als Voraussetzung für ein Erlöschen der bereits zuerkannten Flüchtlingseigenschaft. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU findet Anwendung, wenn die zuständigen Behörden zu beurteilen haben, ob aufgrund der von ihnen geprüften Umstände eine Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet erscheint (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. [ECLI:EU:C:2010:105], Abdulla u.a. - Rn. 93). Die Norm ist darüber hinaus in Fallgestaltungen anwendbar, in denen einer Person die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, die Umstände, auf denen die Zuerkennung beruhte, nachträglich weggefallen sind und die zuständigen Behörden, bevor sie das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft feststellen, prüfen, ob die Person aufgrund anderer Umstände begründete Furcht vor Verfolgung haben kann. Dabei unterscheidet der EuGH ausdrücklich zwischen dem - den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 Richtlinie 2011/95/EU unterliegenden - Wegfall der Umstände, aufgrund derer der Betroffene als Flüchtling anerkannt worden ist, und anderen - der Beweisregel des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU unterfallenden - Umständen, die eine begründete Furcht vor Verfolgungshandlungen hervorgerufen haben können. Für die Anwendung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist kein Raum, wenn die Person unter Berufung auf den gleichen Verfolgungsgrund, auf dem bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft basierte, geltend macht, es seien andere Tatsachen eingetreten, die eine Verfolgung aus diesem Verfolgungsgrund befürchten ließen. In diesem Fall richtet sich die Prüfung allein nach Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. - Rn. 98). Die zuständige Behörde hat die geltend gemachte Verfolgungsgefahr bei der Frage zu prüfen, ob überhaupt eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der Umstände vorliegt, aufgrund derer die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2011 - 10 C 3.10 - BVerwGE 139, 109 Rn. 18). Beruft sich der Flüchtling hingegen auf einen anderen als den bei der Anerkennung festgestellten Verfolgungsgrund, fehlt es an einem Bezug zu den seiner Anerkennung zugrunde liegenden Umständen. Sein Vorbringen steht der Bejahung des Merkmals "Wegfall der Umstände" im Sinne des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e oder f RL 2011/95/EU nicht entgegen. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU findet hier erst im Rahmen der Prüfung des Merkmals "Nicht-mehr-Ablehnen-können der Inanspruchnahme des Schutzes des Landes der eigenen Staatsangehörigkeit bzw. des letzten gewöhnlichen Aufenthalts" Anwendung, sofern frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung eine Verknüpfung mit dem nunmehr geltend gemachten Verfolgungsgrund aufweisen, da erst diese Prüfung eine Beurteilung impliziert, die der Beurteilung eines ersten Antrages auf Anerkennung als Flüchtling entspricht (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 u.a. - Rn. 96 f. i.V.m. Rn. 82 f.; BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2011 - 10 C 3.10 - BVerwGE 139, 109 Rn. 18). [...]