EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 12.11.2019 - C-233/18 Haqbin gg. Belgien - Asylmagazin 12/2019, S. 428 ff. - asyl.net: M27816
https://www.asyl.net/rsdb/M27816
Leitsatz:

Kein kompletter Leistungsausschluss von Asylsuchenden auch bei Gewalttätigkeit in der Unterkunft

1. Die in Art. 20 Abs. 4 AufnahmeRL bei groben Verstößen gegen Vorschriften von Unterkünften und gewalttätigem Verhalten vorgesehenen Sanktionen können auch in Gestalt von Leistungseinschränkungen oder -entzug erfolgen.

2. Allerdings dürfen Asylsuchende nicht auch nur zeitweilig mit dem Entzug sämtlicher materieller Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung oder Kleidung sanktioniert werden, weil ihnen damit die Möglichkeit genommen würde, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 Jawo gg. Deutschland - Asylmagazin 5/2019, S. 196 ff. - asyl.net: M27096).

3. Bei der Verhängung von Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 AufnahmeRL sind die Voraussetzungen des Abs. 5 zur Anordnung dieser und insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Menschenwürde zu achten.

4. Im Fall von unbegleiteten Minderjährigen müssen die Sanktionen unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls ergehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unterbringung, Aufnahmebedingungen, Sanktion, unbegleitete Minderjährige, Verhältnismäßigkeit, Regelverstoß, Gewalttätigkeit, Haqbin, Aufnahmerichtlinie, Leistungen, Sozialrecht, Sozialleistungen, Leistungskürzung, Leistungsausschluss, Leistungseinstellung, Leistungsbescheid, minderjährig, Existenzminimum, besonders schutzbedürftig,
Normen: AEUV Art. 267, RL 2013/33/EU Art. 20 Abs. 4, RL 2013/33/EU Art. 20 Abs. 1, RL 2013/33/EU Art. 20 Abs. 2, RL 2013/33/EU Art. 20 Abs. 3, RL 2013/33/EU Art. 20 Abs. 5 S. 3, RL 2013/33/EU Art. 20 Abs. 6, RL 2013/33/EU Art. 2 Bst. f, RL 2013/33/EU Art. 2 Bst. g, RL 2013/33/EU Art. 2 Bst. d, RL 2013/33/EU Art. 2 Bst. e, RL 2013/33/EU Art. 17 Abs. 1, RL 2013/33/EU Art. 17 Abs. 2 UAbs. 2, GR-Charta Art. 1, RL 2013/33/EU Art. 21, RL 2013/33/EU Art. 23 Abs. 1, RL 2013/33/EU Art. 23 Abs. 2, GR-Charta Art. 24,
Auszüge:

[...]

Zu den Vorlagefragen

31 Mit seinen zusammen zu prüfenden Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat unter den Sanktionen, die gegen einen Antragsteller für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten verhängt werden können, auch die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie vorsehen kann, und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen eine solche Sanktion verhängt werden kann, insbesondere wenn sie sich gegen einen Minderjährigen, speziell einen unbegleiteten Minderjährigen im Sinne der Buchst. d und e dieses Artikels, richtet.

32 Wie sich aus den Begriffsbestimmungen in Art. 2 Buchst. f und g der Richtlinie 2013/33 ergibt, bezeichnet der Ausdruck "im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen" sämtliche Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Richtlinie zugunsten von Antragstellern treffen und zu denen Unterkunft, Verpflegung und Kleidung – in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon – sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs gehören.

33 Nach Art. 17 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2013/33 müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können und diese Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der ihren Lebensunterhalt sowie den Schutz ihrer physischen und psychischen Gesundheit gewährleistet.

34 In Bezug auf "schutzbedürftige Personen" im Sinne von Art. 21 dieser Richtlinie, zu denen unbegleitete Minderjährige – wie Herr Haqbin zum Zeitpunkt der Verhängung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sanktion – zählen, bestimmt Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen müssen, dass für diese Personen ein solcher Lebensstandard "gewährleistet" ist.

35 Allerdings gilt die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass Antragsteller im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können, nicht absolut. Der Unionsgesetzgeber hat nämlich in Art. 20 ("Einschränkung oder Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen") der Richtlinie 2013/33, der zu deren identisch überschriebenem Kapitel III gehört, Umstände vorgesehen, unter denen solche Leistungen eingeschränkt oder entzogen werden können.

36 Wie vom vorlegenden Gericht festgestellt, beziehen sich die ersten drei Absätze dieses Artikels ausdrücklich auf die "im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen".

37 Insoweit bestimmt Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in begründeten Ausnahmefällen einschränken oder entziehen können, wenn ein Antragsteller ohne Genehmigung oder Benachrichtigung den von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bestimmten Aufenthaltsort verlässt, seinen Melde- und Auskunftspflichten oder Aufforderungen zu persönlichen Anhörungen im Rahmen des Asylverfahrens nicht nachkommt oder einen "Folgeantrag" nach Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 stellt.

38 Nach Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt werden, wenn nachgewiesen ist, dass der Antragsteller ohne berechtigten Grund nicht so bald wie vernünftigerweise möglich nach der Ankunft im betreffenden Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

39 Ferner können die Mitgliedstaaten nach Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller verschwiegen hat, dass er über Finanzmittel verfügt, und dadurch zu Unrecht in den Genuss dieser Leistungen gekommen ist.

40 Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 bestimmt seinerseits, dass die Mitgliedstaaten "Sanktionen" für grobe Verstöße des Antragstellers gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätiges Verhalten des Antragstellers festlegen können.

41 Da der u.a. in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verwendete Begriff "Sanktion" in der Richtlinie nicht definiert und auch nicht näher geregelt ist, welche Art von Sanktionen nach dieser Vorschrift gegen einen Antragsteller verhängt werden kann, verfügen die Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Sanktionen über ein weites Ermessen.

42 In Anbetracht dessen, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts, wie sie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils umformuliert worden sind, allein anhand des Wortlauts von Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 nicht beantwortet werden können, sind zur Auslegung dieser Vorschrift auch ihr Kontext sowie der allgemeine Aufbau und die Ziele dieser Richtlinie zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C-83/14, EU:C:2015:480, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43 Was die Frage betrifft, ob eine "Sanktion" im Sinne von Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 die "im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen" betreffen kann, ist zum einen festzustellen, dass eine Maßnahme, mit der einem Antragsteller wegen grober Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätigen Verhaltens die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt oder entzogen werden, angesichts ihres Zwecks und ihrer für den Antragsteller nachteiligen Folgen eine "Sanktion" im herkömmlichen Wortsinn darstellt, und zum anderen, dass diese Vorschrift zu Kapitel III der Richtlinie gehört, in dem die Einschränkung und der Entzug solcher Leistungen geregelt sind. Daraus folgt, dass sich die von dieser Vorschrift erfassten Sanktionen grundsätzlich auf die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen beziehen können.

44 Es ist zwar richtig, dass die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einzuschränken bzw., je nach Fall, zu entziehen, nur in den Abs. 1 bis 3 von Art. 20 der Richtlinie 2013/33 ausdrücklich vorgesehen ist, in denen es, wie der 25. Erwägungsgrund der Richtlinie verdeutlicht, hauptsächlich um Fälle geht, in denen zu befürchten ist, dass die Antragsteller das mit der Richtlinie eingeführte Aufnahmesystem missbrauchen. Jedoch schließt Abs. 4 dieses Artikels nicht ausdrücklich aus, dass eine Sanktion die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen betreffen kann. Zudem müssen, wie insbesondere die Kommission geltend gemacht hat, die Mitgliedstaaten, wenn sie zum Schutz vor Missbrauch ihres Aufnahmesystems Maßnahmen in Bezug auf diese Leistungen ergreifen können, auch dann über diese Möglichkeit verfügen, wenn es um grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätiges Verhalten geht. Solche Handlungen sind nämlich geeignet, die öffentliche Ordnung zu stören und die Sicherheit von Personen und Sachen zu gefährden.

45 Allerdings ist hervorzuheben, dass nach Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33 jede Sanktion im Sinne von Abs. 4 dieses Artikels objektiv, unparteiisch, begründet und im Hinblick auf die besondere Situation des Antragstellers verhältnismäßig sein und dem Antragsteller in jedem Fall Zugang zur medizinischen Versorgung und einen würdigen Lebensstandard belassen muss.

46 Was speziell das Erfordernis anbelangt, dass die Würde des Lebensstandards gewahrt bleibt, geht aus dem 35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 hervor, dass diese darauf abzielt, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung u.a. von Art. 1 der Charta der Grundrechte zu fördern, und entsprechend umgesetzt werden muss. Insoweit verlangt die Achtung der Menschenwürde im Sinne dieses Artikels, dass der Betroffene nicht in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie etwa eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren, zu kleiden und zu waschen, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C-163/17, EU:C:2019:218, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47 Die Verhängung einer Sanktion, mit der allein aus einem in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 genannten Grund sämtliche im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder die in diesem Rahmen gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung entzogen werden, und sei es nur zeitweilig, wäre mit der Verpflichtung gemäß Art. 20 Abs. 5 Satz 3 dieser Richtlinie, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten, unvereinbar, weil sie ihm die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie sie in der vorstehenden Randnummer näher dargelegt wurden.

48 Eine solche Sanktion würde zudem das in Art. 20 Abs. 5 Satz 2 der Richtlinie 2013/33 genannte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit verkennen, da selbst die härtesten Sanktionen zur strafrechtlichen Ahndung der von Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie erfassten Verstöße oder Verhaltensweisen dem Antragsteller nicht die Möglichkeit nehmen können, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.

49 Dies wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass, wie das vorlegende Gericht ausführt, einem Antragsteller, gegen den die Sanktion des Ausschlusses von einem belgischen Unterbringungszentrum verhängt wird, zu diesem Zeitpunkt eine Liste privater Obdachlosenheime ausgehändigt wird, die ihn aufnehmen könnten. Die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats dürfen sich nämlich nicht darauf beschränken, einem Antragsteller, der infolge einer gegen ihn verhängten Sanktion von einem Unterbringungszentrum ausgeschlossen wird, eine Liste der Aufnahmestrukturen auszuhändigen, an die er sich wenden könnte, um dort im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen zu empfangen, die den ihm entzogenen gleichwertig sind.

50 Ganz im Gegenteil bedeutet zum einen die in Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33 vorgesehene Pflicht, einen würdigen Lebensstandard zu gewährleisten, wie sich bereits aus der Verwendung des Verbs "gewährleisten" ergibt, dass die Mitgliedstaaten einen solchen Lebensstandard dauerhaft und ohne Unterbrechung sicherstellen müssen. Zum anderen müssen die Behörden der Mitgliedstaaten den zur Gewährleistung eines solchen Lebensstandards geeigneten Zugang zu den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in geordneter Weise und eigener Verantwortlichkeit anbieten, auch wenn sie unter Umständen auf natürliche oder juristische Personen des Privatrechts zurückgreifen, damit diese Pflicht unter ihrer Hoheit erfüllt wird.

51 Was eine Sanktion anbelangt, mit der aus einem in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 genannten Grund die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt werden, einschließlich des Entzugs oder der Einschränkung von Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs, so obliegt es den zuständigen Behörden, unter allen Umständen dafür zu sorgen, dass eine solche Sanktion gemäß Art. 20 Abs. 5 dieser Richtlinie im Hinblick auf die besondere Situation des Antragstellers und auf sämtliche Umstände des Einzelfalls mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht und die Würde des Antragstellers nicht verletzt.

52 Ferner ist klarzustellen, dass die Mitgliedstaaten in den in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 bezeichneten Fällen je nach den Umständen des Einzelfalls und vorbehaltlich der Einhaltung der in Art. Abs. 5 dieser Richtlinie genannten Anforderungen Sanktionen verhängen können, die nicht dazu führen, dass dem Antragsteller die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen entzogen werden, wie etwa sein Verbleib in einem separaten Teil des Unterbringungszentrums in Verbindung mit dem Verbot, mit bestimmten Bewohnern des Zentrums in Kontakt zu treten, oder seine Verbringung in ein anderes Unterbringungszentrum oder eine andere Unterkunft im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie. Desgleichen hindert Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33 nicht an der Inhaftnahme des Antragstellers gemäß Art. 8 Abs. 3 Buchst. e dieser Richtlinie, sofern die Voraussetzungen der Art. 8 bis 11 der Richtlinie erfüllt sind.

53 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Behörden der Mitgliedstaaten, wenn der Antragsteller wie im Ausgangsverfahren ein unbegleiteter Minderjähriger und damit eine "schutzbedürftige Person" im Sinne von Art. 21 der Richtlinie 2013/33 ist, bei der Verhängung von Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie, wie aus deren Art. 20 Abs. 5 Satz 2 hervorgeht, verstärkt die besondere Situation des Minderjährigen und das Verhältnismäßigkeitsprinzip berücksichtigen müssen. [...]

55 In diesem Zusammenhang muss – über die in den Rn. 47 bis 52 des vorliegenden Urteils dargelegten allgemeinen Erwägungen hinaus – bei der Verhängung einer Sanktion nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit Abs. 5 dieses Artikels unter allen Umständen besonderes Augenmerk auf die Situation des Minderjährigen gelegt werden. Im Übrigen hindern diese beiden Bestimmungen die Behörden eines Mitgliedstaats nicht daran, den betreffenden Minderjährigen der Obhut der für Jugendschutz zuständigen Dienststellen oder Justizbehörden anzuvertrauen.

56 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 1 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat unter den Sanktionen, die gegen einen Antragsteller für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten verhängt werden können, keine Sanktion vorsehen kann, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie, die sich auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung beziehen, auch nur zeitweilig entzogen werden, weil diese Sanktion dem Antragsteller die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Bei der Verhängung anderer Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie sind unter allen Umständen die in Abs. 5 dieses Artikels genannten Voraussetzungen, insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Achtung der Menschenwürde, zu beachten. Im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen müssen die Sanktionen im Hinblick insbesondere auf Art. 24 der Charta der Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls ergehen. [...]