VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 28.11.2019 - 6 A 112/18 - Asylmagazin 1-2/2020, S. 40 f. - asyl.net: M27972
https://www.asyl.net/rsdb/M27972
Leitsatz:

Kein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit durch erfolgreiche Anfechtung der Vaterschaft:

1. Die erfolgreiche Anfechtung der Vaterschaft bleibt ohne Auswirkungen auf die Staatsangehörigkeit des Kindes. Einen auf den Zeitpunkt der Geburt rückwirkenden Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes hat sie nicht zur Folge. 

2. Die früher vertretene Ansicht, dass die erfolgreiche Anfechtung der Vaterschaft automatisch zum rückwirkenden Entfall der deutschen Staatsangehörigkeit führt, verletzt den in Art. 16 Abs. 1 S. 2 GG geregelten Gesetzesvorbehalt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.7.2019 - 2 BvR 1327/18, juris, Rn. 32-34).

3. Bei § 17 Abs. 2 StAG, welcher 2009 neu eingeführt wurde, handelt es sich nicht um eine den Verlust der Staatsangehörigkeit anordnende Rechtsgrundlage, sondern die Norm bestimmt vielmehr, unter welchen Voraussetzungen die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten bleibt (in diesem Sinne auch BVerwG, Urteil vom 19.4.2018 - 1 C 1.17 -, juris, Rn. 34). Eine den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit herbeiführende Rechtsgrundlage zu schaffen, war nicht Absicht der Gesetzgebung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Vaterschaftsanfechtung, deutsche Staatsangehörigkeit, Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit, deutsches Kind, Gesetzesvorbehalt,
Normen: StAG § 30 Abs. 1, StAG § 4 Abs. 1 S.1, BGB § 1592 Nr. 1, BGB § 1599 Abs. 1, StAG § 17 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

2. Die deutsche Staatsangehörigkeit des Klägers ist nachträglich nicht verloren gegangen, erloschen oder "rückwirkend nicht erworben". Insbesondere wird sie durch die erfolgreiche Anfechtung der Vaterschaft des in Zeitpunkt der Geburt des Klägers mit dessen Mutter verheirateten deutschen Staatsangehörigen nicht berührt.

a. § 1599 Nr. 1 BGB, der bestimmt, dass § 1592 Nr. 1 BGB nicht gilt, wenn aufgrund einer Anfechtung rechtskräftig festgestellt ist, dass der im Zeitpunkt der Geburt des Betroffenen mit dessen Mutter Verheiratete nicht der Vater des Kindes ist, führt zwar zu einem Entfallen der Vaterschaft ex tunc (vgl. BGH, Urt. v. 11.1.2012 - XII ZR 194/09 juris, Rn. 17, Beschl. v 22.3.2017 - XII ZB 56/16 -, juris, Rn. 14, Urt. v. 3.11.1971 - IV ZR 86/70, juris, Rn. 13); die erfolgreiche Anfechtung der Vaterschaft bleibt indes ohne Auswirkungen auf die Staatsangehörigkeit des Kindes. Einen auf den Zeitpunkt der Geburt rückwirkenden Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes hat sie nicht zur Folge (a.A. die bisher st. Rspr., zuletzt BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 1.17 -, juris, Rn. 18 f., aufgehoben durch BVerfG, Beschl. v. 17.7.2019 - 2 BvR 1327/18 -‚ juris). Zu der gegenteiligen, der bisher ständigen Rechtsprechung entsprechenden Auffassung, nach der der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Abstammung gemäß § 4 Abs. 1 StAG unter dem ungeschriebenen, aber unumstrittenen und einer allgemeinen, hergebrachten Rechtsüberzeugung entsprechenden Vorbehalt stehe, dass die Vaterschaft des die deutsche Staatsangehörigkeit Vermittelnden nicht erfolgreich angefochten werde, und nach welcher es in dem Fall, dass die Vaterschaft des die deutsche Staatsangehörigkeit Vermittelnden (doch) erfolgreich angefochten werde, zu einem im Sinne eines Automatismus funktionierenden rückwirkenden Entfalls der deutschen Staatsangehörigkeit komme (BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 1.17 -‚ juris, Rn. 19, 33), hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 17. Juli 2019 (2 BvR 1327/18, juris, Rn. 32-34) klargestellt, dass diese den in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG geregelten Gesetzesvorbehalt verletze:

"aa) Der Gesetzesvorbehalt des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG ist verletzt.

(1) Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt zur Legitimierung eines unfreiwilligen Verlusts der Staatsangehörigkeit eine gesetzliche Grundlage (vgl. BVerfGE 116, 24 <52 ff.>). Dabei gebietet Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG, den Verlust der Staatsangehörigkeit so bestimmt zu regeln, dass die für den Einzelnen und für die Gesellschaft gleichermaßen bedeutsame Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit zum Staatsvolk nicht beeinträchtigt wird (vgl. BVerfGE 116, 24 <61>; 135, 48 <78 Rn. 78>). Hierbei sind die strengen Anforderungen zu beachten, die der Gesetzesvorbehalt an die Regelung der Staatsangehörigkeit stellt (vgl. BVerfGE 135, 48 <79 Rn 80>) Zur Verlässlichkeit des Staatsangehörigkeitsstatus gehört auch die Vorhersehbarkeit eines Verlusts und damit ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Bereich der staatsangehörigkeitsrechtlichen Verlustregelungen (vgl. BVerfGE 116, 24 <45>).

(2) Nach diesen Maßstäben lag zum maßgeblichen Zeitpunkt im Jahr 2005 keine ausreichende gesetzliche Grundlage vor, weil der Umstand, dass die Staatsangehörigkeit infolge der Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft wegfällt, nicht gesetzlich geregelt war (vgl. aus der fachgerichtlichen Rechtsprechung Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein, Beschluss vom 11. Mai 2016 - 4 O 12/16 -‚ juris, Rn. 14). Die familienrechtlichen Vorschriften zur Anfechtung durch den Vater regeln die Auswirkungen auf die Staatsangehörigkeit nicht ausdrücklich. Auch im Staatsangehörigkeitsrecht fand sich im hier maßgeblichen Zeitpunkt keine gesetzliche Regelung, die den Verlust der Staatsangehörigkeit infolge der die Vaterschaft beendenden Anfechtung durch den Vater anordnete. In der Aufzählung der Verlustgründe (§ 17 Abs. 1 StAG a.F.) war diese Verlustform nicht enthalten. Die im Februar 2009 erfolgte Änderung dahingehend, dass der Gesetzgeber in § 17 Abs. 2 und 3 StAG n.F. für den Staatsangehörigkeitsverlust drittbetroffener Kinder eine Altersgrenze festgesetzt hat, war vorliegend noch nicht anwendbar. Der Wegfall der Staatsangehörigkeit ergab sich vielmehr aus der Anwendung zweier ungeschriebener Rechtsregeln, an die § 1599 Abs. 1 BGB unausgesprochen anknüpft. Zugrunde liegen erstens die Annahme der Rückwirkung der erfolgreichen  Vaterschaftsanfechtung auf den Zeitpunkt der Geburt und zweitens die Annahme, dass das Staatsangehörigkeitsrecht in vollem Umfang den familienrechtlichen Abstammungsvorschriften folgt, so dass die staasangehörigkeitsrechtlichen Erwerbsvoraussetzungen mit der Vaterschaft rückwirkend entfallen. Der Gesetzgeber hat dies vorausgesetzt, jedoch nicht erkennbar geregelt (vgl. BVerfGE 135, 48 <79 Rn. 78 f.>). Zwar ist bei einer Anfechtung durch den Vater der Verlust der Staatsangehörigkeit des Kindes eine Nebenfolge anders als bei der Behördenanfechtung, die den Verlust der Staatsangehörigkeit des Kindes gerade zielgerichtet bezweckte, um einen aufenthaltsrechtlichen Status der Mutter zu beseitigen (vgl. dazu BVerfGE 135, 48 <79 Rn. 79>). Allerdings ändert dies nichts daran, dass es bei der Anfechtung durch den Vater ebenso wie bei der Behördenanfechtung keine ausdrückliche Regelung gab, die den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit - eine gravierende Rechtsfolge für das betroffene Kind - anordnete."

Dieser ohnedies verbindlichen (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) Auffassung schließt sich die Kammer an.

b. Ein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit gemäß § 17 StAG ist nicht eingetreten. Einer der Tatbestände des § 17 Abs. 1 StAG ist - Entsprechendes trägt auch die Beklagte nicht vor - offensichtlich nicht erfüllt.

Aus § 17 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 StAG ergibt sich ebenfalls kein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit des Klägers. Die Abs. 2 und 3 des § 17 StAG wurden durch das Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 5. Februar 2009 (BGBl. I S. 158) eingeführt und galten damit für den Sachverhalt, der Gegenstand der zitierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. April 2018 (1 C 1.17) und des Bundesverfassungsgerichtes vom 17. Juli 2019 (2 BvR 1327/18) war, nicht.

Zwar erklärt § 17 Abs. 3 Satz 1 StAG bei Entscheidungen nach anderen Gesetzen, die den rückwirkenden Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit Dritter zur Folge hätten, insbesondere unter anderem der - hier gegebenen - Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft nach § 1599 BGB die Regelung des § 17 Abs. 2 StAG für entsprechend anwendbar. Bei § 17 Abs. 2 StAG handelt es sich indes nicht um eine den Verlust der Staatsangehörigkeit anordnende Rechtsgrundlage; vielmehr sieht die Bestimmung vor, der Verlust der Staatsangehörigkeit "berührt nicht die kraft Gesetzes erworbene deutsche Staatsangehörigkeit Dritter, sofern diese das fünfte Lebensjahr vollendet haben". Damit bewahrt sie mithin bei Erfüllung ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen die deutsche Staatsangehörigkeit (in diesem Sinne auch BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 1.17 -, juris, Rn. 34).

Eine den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit herbeiführende Rechtsgrundlage zu schaffen, entsprach auch nicht der Absicht des Gesetzgebers: In der Gesetzesbegründung wird unterstrichen, dass § 17 Abs. 2 StAG dem Ziel diene, den Bestand der Staatsangehörigkeit dritter Personen zu garantieren (BT-Drs. 16/10528, S. 6). Zwar wird in der Begründung zur Einführung des Abs. 2 auf den rückwirkenden Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bei der Rücknahme einer Einbürgerung, der sich auf die in diesem Falle tatsächlich vorhandene Rechtsgrundlage gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 7 StAG stützen lässt, abgestellt. Im Zuge der Begründung der Einführung des hier maßgeblichen Abs. 3 wird aber sodann - im Einklang mit der damaligen Rechtsprechung - lediglich stillschweigend vorausgesetzt, es bestehe eine Rechtsgrundlage, die auch im Falle des § 1599 Abs. 1 BGB zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit führe (BT-Drs. 16/10528, S. 7, li. Sp unten/re. Sp. oben). Die bloße Annahme des Gesetzgebers, eine solche Rechtsgrundlage sei vorhanden, ist jedoch unverbindlich; maßgeblich ist der Wille des Gesetzgebers lediglich, wenn und soweit er im Gesetz auch Niederschlag gefunden hat. [...]