VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 21.01.2020 - 4 A 138/18 - asyl.net: M28081
https://www.asyl.net/rsdb/M28081
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender politischer Verfolgung in der Russischen Föderation:

1. Einer aus Tschetschenien stammenden Person, die wegen ihres ins Ausland geflohenen Bruders mehrmals verhört und im Verhör auch misshandelt wurde, um an Informationen zu gelangen, droht bei ihrer Rückkehr erneut politische Verfolgung.

2. Im Fall einer - wie hier - staatlichen Verfolgung sind Erwägungen zu einer staatlichen Schutzgewährung nicht angezeigt.

3. Eine inländische Fluchtalternative steht in einem solchen Fall in der Russischen Föderation nicht zur Verfügung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Tschetschenien, politische Verfolgung, interner Schutz, staatliche Verfolgung, Sippenhaft, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

An der im ablehnenden PKH-Beschluss vertretenen Einschätzung, dass die Angaben der Kläger zu 1. und 2. bzgl. des Verfolgungsschicksals des Klägers zu 1. unglaubhaft seien, hält das Gericht nicht mehr fest. Der Kläger zu 1. hat in sich stimmig, nachvollziehbar und für das Gericht überzeugend dargelegt, dass er wegen eines fortbestehenden Verfolgungsinteresses der tschetschenischen und russischen Sicherheitskräfte an seinem ins europäische Ausland geflüchteten Bruder ... selbst in diese betreffende Verfolgung einbezogen worden ist. Hier hat der Kläger zu 1. von Anfang an in sich stimmig mitgeteilt, dass er im Mai 2016 flüchtlingsrelevanten politischen Verfolgungsmaßnahmen durch tschetschenische und russische Sicherheitskräften ausgesetzt gewesen ist. Die betreffenden Schilderungen des Klägers zu 1. hat die Klägerin zu 2. mit ihrem inhaltsgleichen Vortrag glaubhaft bestätigt. So steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger zu 1. bei einem ersten Vorfall durch staatliche Sicherheitskräfte auf der Straße vor seinem Haus zu seinem Bruder befragt worden ist und man von ihm dessen Aufenthaltsort und Verbindungsdaten erlangen wollte. Etwa zwei bis drei Tage später sind dann entsprechende Sicherheitskräfte in das Haus des Klägers zu 1. eingedrungen und haben ihn unter Gewaltanwendung erneut zu Preisgabe des Aufenthaltsortes seines Bruders zwingen wollen. Hierbei ist es bereits zu massiven Übergriffen gegenüber dem Kläger zu 1. gekommen und haben die Angreifer nur von dem Kläger zu 1. abgelassen, weil es durch Schreie seiner Ehefrau und Schwiegermutter zum Bemerken des Übergriffes auch in der Nachbarschaft gekommen ist. Etwa eine Woche später ist es dann auf der Straße vor dem Haus des Klägers zu einer Verschleppung des Klägers zu 1. gekommen und hat insoweit der Kläger 1. in sich stimmig, glaubhaft und für das Gericht überzeugend geschildert, dass es erneut zu gravierenden Misshandlungen und Übergriffen ihm gegenüber gekommen ist, um ihn zur Preisgabe von Daten bzgl. seines Bruders zu zwingen. Dass diese gegenüber dem Kläger zu 1. erfolgten Misshandlungen und Übergriffe durch tschetschenische oder russische Sicherheitskräfte ausgeführt worden sind, besteht für das Gericht keinerlei Zweifel. Die betreffenden Übergriffe standen in eindeutigem Zusammenhang mit einem politischen Verfolgungsinteresse gegenüber seinem Bruder, der bereits wegen separatistischer Bestrebungen zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden ist. Von daher ist die Einbeziehung des Klägers zu 1. in diese Verfolgung seines Bruders ebenfalls eine eindeutige politische Verfolgung gegenüber dem Kläger zu 1. durch tschetschenische und russische Sicherheitskräfte, die an einem Separatismusverdacht auch gegenüber dem Kläger zu 1. anknüpft. Zur Überzeugung des Gerichts steht auch fest, dass der Kläger zu 1. mit seiner Familie wegen einer unmittelbar bevorstehenden und erneut drohenden politischen Verfolgung sein Heimatland verlassen musste. Eine Schutzgewährung durch staatliche Sicherheitskräfte (etwa der Polizei) wäre auch zur Überzeugung des Gerichts niemals in Betracht gekommen, da die Verfolgungsmaßnahmen für das Gericht unzweifelhaft den staatlichen Sicherheitskräften zuzuordnen waren. Von daher sind Erwägungen zu einer staatlichen Schutzgewährung gegenüber dem Kläger zu 1. abwegig.

Für den Kläger zu 1. besteht auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG. Gemäß § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG sind bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslands die Voraussetzungen nach Abs. 1 erfüllt, die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zu berücksichtigen. Der Zumutbarkeitsmaßstab nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG geht über das Fehlen einer im Rahmen der analogen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 -10 C 15.12 -, juris, Rn. 20). Ausschlaggebend kommt es auf die Würdigung der konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls an (vgl. BayVGH, Beschluss vom 13. März 2014 - 13a ZB 14.30043 -. juris, Rn. 7).

Im vorliegenden Fall hat der Kläger zu 1. auch glaubhaft und für das Gericht überzeugend dargetan, dass für ihn eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation nicht bestand und besteht. Der namentlich bekannte Kläger zu 1. wäre selbst bei einer Veränderung seines Wohnsitzes innerhalb der Russischen Föderation und einer Meldung an einem anderen Ort sofort anhand seiner Personalien identifizierbar gewesen und hätte wegen des Verfolgungsinteresses an seiner Person auch in anderen Landesteilen der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneute Verfolgungsmaßnahmen zu befürchten. Diese Einschätzung gilt zur Überzeugung des Gerichts gleichermaßen für den Fall eine Rückkehr in sein Heimatland, weil diese Gefährdungssituation auch bei einer Rückkehr uneingeschränkt fortbesteht und der Kläger mit erneutem Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat, denen er sich auch durch ein Ausweichen in anderen Landesteile der Russischen Föderation nicht entziehen könnte und damit eine inländische Fluchtalternative für ihn nicht bestand und auch aktuell nicht beseht. [...]