Bundesministerium des Innern

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Zitieren als:
Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 14.02.2020 - BMI M3-20010/22#11 - asyl.net: M28103
https://www.asyl.net/rsdb/M28103
Leitsatz:

BMI und BMFSFJ zur Aufhebung der Wohnsitzregelung in Gewaltschutzfällen:

1. Da der Kenntnisstand von Behörden und Einrichtungsträgern in Bezug auf die Möglichkeiten der Aufhebung der Wohnsitzregelung für Schutzberechtigte nach § 12a AufenthG in Gewaltschutzfällen unterschiedlich ausgeprägt ist, gibt das gemeinsame Rundschreiben des Bundesinnen- und Bundesfamilienministeriums Hinweise für die Handhabung in solchen Fällen.

2. Hinreichend dargelegte und nachgewiesene Gewaltschutzfälle sind Härtefälle i.S.d. § 12a Abs. 5 S. 1 Nr. 2 Bst. c AufenthG und daher immer ein Aufhebungsgrund.

3. Die Aufhebung der Wohnsitzverpflichtung bzw. -zuweisung ist bei der Ausländerbehörde zu beantragen, die für den Ort der bestehenden Wohnsitzverpflichtung zuständig ist. Anträge in Gewaltschutzfällen sind prioritär und zügig zu bearbeiten. Die Ausländerbehörde am Zuzugsort hat in Fällen des § 12a Abs. 5 AufenthG ihre nach § 72 Abs. 3a AufenthG erforderliche Zustimmung zu erteilen; wenn innerhalb von vier Wochen kein Widerspruch erfolgt, gilt die Zustimmung als erteilt. Ablehnungen sind zu begründen.

4. Die betroffene Person hat glaubhaft zu machen, dass sie Opfer von häuslicher oder geschlechtsspezifischer Gewalt geworden ist und ihr derartige Gewalt auch künftig drohen würde, wenn sie ihren Wohnsitz nicht verlegen dürfte. Es ist zu berücksichtigen, dass Opfer von Gewalt oft Schwierigkeiten haben, über das Erlebte widerspruchsfrei und lückenlos zu berichten (z.B. durch Hinzuziehung einer Vertrauensperson, weiblichen Mitarbeiterin). Ein geeigneter Nachweis sollte vorgelegt werden (z.B. Atteste, Krankenhausberichte, Frauenhausaufnahmebestätigung); in Ausnahmesituationen soll davon abgesehen werden.

5. Der vorübergehende Aufenthalt an einem anderen Ort ist keine Ordnungswidrigkeit nach § 98 Abs. 3 Nr. 2a (Verletzung der Wohnsitzpflicht) oder Nr. 2b (Nichtbefolgung der Wohnsitzzuweisung) AufenthG.

6. Auflistung von Fachberatungsstellen.

(Zusammenfassung der Redaktion)

Schlagwörter: Gewaltschutz, Wohnsitzauflage, Wohnsitzregelung, Erlass, Erlasslage, Weisung, Bundesministerium des Innern, Bundesfamilienministerium, Wohnsitzregelung für Schutzberechtigte, Wohnsitzverpflichtung, Wohnsitzzuweisung, Härtefall, Gewalt, häusliche Gewalt, Aufhebung, örtliche Zuständigkeit, Ausländerbehörde, geschlechtsspezifische Gewalt, Ordnungswidrigkeit,
Normen: AufenthG § 12a Abs. 5 S. 1 Nr. 2 Bst. c, AufenthG § 72 Abs. 3a, AufenthG § 98 Abs. 3 Nr. 2a, AufenthG § 98 Abs. 3 Nr. 2b,
Auszüge:

[...]

Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wurde verschiedentlich vorgetragen, dass der Kenntnisstand hinsichtlich der Möglichkeiten der Aufhebung der Wohnsitzverpflichtung in Gewaltschutzfällen bei den Bedarfsträgern unterschiedlich ausgeprägt sei. Das vorliegende Rundschreiben gibt daher Hinweise für die Handhabung der Wohnsitzregelung in Gewaltschutzfällen. [...]

II. Aufhebung der Wohnsitzbindung in Gewaltschutzfällen

1. Hinreichend dargelegte und nachgewiesene Gewaltschutzfälle sind Härtefälle im Sinne des Gesetzes und daher immer ein Aufhebungsgrund

Gemäß § 12a Absatz 5 Satz 1 Nummer 2 Buchstabe c) des Aufenthaltsgesetzes ist eine Wohnsitzverpflichtung oder -zuweisung zur Vermeidung einer Härte aufzuheben [...]. [...] Danach besteht eine unzumutbare Einschränkung durch eine Wohnortbindung, wenn die Verpflichtung oder Zuweisung eine gewalttätige oder gewaltbetroffene Person an den bisherigen Wohnsitz bindet oder einer Schutzanordnung nach dem Gewaltschutzgesetz oder sonstigen erforderlichen Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt (insbesondere häuslicher oder geschlechtsspezifischer Gewalt) entgegensteht. Hinreichend dargelegte und nachgewiesene Gewaltschutzfälle (vgl. zum grundsätzlichen Nachweiserfordernis die Ausführungen unter Punkt II. 2.) stellen immer einen Härtefall im Sinne des § 12a Absatz 5 Satz 2 Nummer 2 Buchstabe c) des Aufenthaltsgesetzes dar – mit der Folge, dass in diesen Fällen eine bestehende Wohnsitzverpflichtung oder -zuweisung aufzuheben ist.

2. Antrags- und Nachweiserfordernis

Die Aufhebung der Wohnsitzverpflichtung bzw. Wohnsitzzuweisung ist bei der zuständigen Ausländerbehörde zu beantragen.

Die betroffene Person hat zur Begründung des Aufhebungsantrags auf geeignete Weise glaubhaft zu machen, dass sie Opfer von häuslicher oder geschlechtsspezifischer Gewalt geworden ist und ihr derartige Gewalt auch zukünftig drohen würde, wenn sie ihren Wohnsitz nicht verlegen dürfte. Die betroffene Person hat im Rahmen des Aufhebungsantrags eine Mitwirkungspflicht (§ 81 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes) – d.h. sie ist verpflichtet, ihre Belange und die für sie günstigen Umstände beizubringen. [...]

Insgesamt ist zu berücksichtigen, dass Opfer von Gewalt oft traumatische Erfahrungen gemacht haben und nachvollziehbare Hemmungen bestehen können, über das Erlebte zu berichten. Zudem können Traumatisierungen und Ängste dazu führen, dass Opfer von Gewalt Erlebtes nicht immer widerspruchsfrei und lückenlos schildern können. Deshalb sollten Ausländerbehörden den betroffenen Personen die Möglichkeit bieten, bei Terminen Vertrauenspersonen hinzuzuziehen. Die Ausländerbehörden sollten zudem der Bitte einer Antragstellerin nachkommen, ihren Fall einer weiblichen Mitarbeiterin schildern zu dürfen.

Zusätzlich zur Schilderung des Sachverhalts durch die betroffene Person sollte ein geeigneter Nachweis vorgelegt werden. Dieser kann auf verschiedenen Wegen erbracht werden: Dazu zählen etwa ärztliche Atteste oder Krankenhausberichte über physische oder psychische Verletzungen. Ausreichend ist es zudem, wenn für die betroffene Frau eine Aufnahmebestätigung eines Frauenhauses vorliegt. [...]

Als Nachweis geeignet sind ebenfalls gerichtliche Schutzanordnungen oder gerichtliche Wohnungszuweisungen nach dem Gewaltschutzgesetz sowie entsprechende Anträge nach dem Gewaltschutzgesetz. [...]

In besonderen Ausnahmesituationen, in denen eine dringende Schutzbedürftigkeit offensichtlich ist, soll von der Vorlage eines Nachweises abgesehen werden.

3. Vorübergehender Aufenthalt an einem anderen Ort ist keine Ordnungswidrigkeit

Nach § 98 Absatz 3 Nummer 2a des Aufenthaltsgesetzes handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 12a Absatz 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes den Wohnsitz nicht oder nicht für die vorgeschriebene Dauer in dem Land nimmt, in dem er zu wohnen verpflichtet ist. Nach § 98 Absatz 3 Nummer 2b des Aufenthaltsgesetzes handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig einer vollziehbaren Anordnung nach § 12a Absatz 2, 3 oder 4 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder § 61 Absatz 1c des Aufenthaltsgesetzes zuwiderhandelt.

In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass kein Verstoß gegen die Wohnsitzverpflichtung des § 12a des Aufenthaltsgesetzes und damit auch keine Ordnungswidrigkeit vorliegt, wenn sich eine schutzberechtigte Person vorübergehend außerhalb der Zuweisungskommune oder außerhalb des zugewiesenen Bundeslandes aufhält. [...]

4. Notwendige prioritäre und zügige Bearbeitung der Gewaltschutzfälle durch die Ausländerbehörden

Zuständig für die Bearbeitung eines Antrags auf Aufhebung einer Wohnsitzverpflichtung oder -zuweisung ist die Ausländerbehörde, die für den Ort zuständig ist, an dem die schutzberechtigte Ausländerin bzw. der schutzberechtigte Ausländer zu wohnen verpflichtet ist. [...]

5. Erfordernis der Zustimmung der für den geplanten Zuzugsort zuständigen Ausländerbehörde

Nach § 72 Absatz 3a des Aufenthaltsgesetzes darf die Aufhebung einer Wohnsitzverpflichtung nach § 12a Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes nur mit Zustimmung der Ausländerbehörde des geplanten Zuzugsorts erfolgen. [...] Diese Ausländerbehörde hat die Zustimmung zu erteilen, wenn die Voraussetzungen des § 12a Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen; andere Gründe rechtfertigen eine Ablehnung hingegen nicht. Eine Ablehnungsentscheidung muss die für den geplanten Zuzugsort zuständige Ausländerbehörde zudem begründen. Die Zustimmung gilt zudem als erteilt, wenn die Ausländerbehörde am Zuzugsort nicht innerhalb von vier Wochen ab Zugang des Ersuchens widerspricht.

6. Weiterführende Informationen

Im Folgenden sind relevante Akteure im Bereich Gewaltschutz aufgeführt. [...]