VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 08.01.2020 - 2 K 70.18 - asyl.net: M28110
https://www.asyl.net/rsdb/M28110
Leitsatz:

Keine Einbürgerung eines Mitglieds der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş aus der Türkei:

Die Unterstützung von Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung bei der Ausübung einer Tätigkeit als Funktionär der Jugendabteilung der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) stellt einen Ausschlussgrund im Sinne des § 11 S. 1 Nr. 1 StAG dar. Eine innere Abkehr kann nicht festgestellt werden, wenn die eigenen Unterstützungshandlungen in Abrede gestellt oder bagatellisiert werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Einbürgerung, Verfassungsfeindliche Bestrebungen, Islamische Gemeinschaft Milli Görüş, IGMG, Türkei, freiheitliche demokratische Grundordnung, Ausschlussgrund, innere Abkehr, türkische Staatsangehörige,
Normen: StAG § 11 S. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

15 [...] Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Erteilung einer Einbürgerungszusicherung noch auf Neubescheidung seines Einbürgerungsantrages.

16 Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers sind die § 10 und § 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG). Ob die Voraussetzungen dieser Vorschriften hier erfüllt sind, kann dahinstehen. Denn einer Einbürgerung des Klägers steht jedenfalls der Ausschlussgrund des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG entgegen. Danach ist die Einbürgerung u.a. ausgeschlossen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sind, es sei denn, der Ausländer macht glaubhaft, dass er sich von der früheren Verfolgung oder Unterstützung derartiger Bestrebungen abgewandt hat. [...]

18 Ausgehend hiervon liegen die Voraussetzungen des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG im Falle des Klägers vor. Jedenfalls in der Vergangenheit hat die IGMG Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verfolgt, Teile der IGMG tun dies auch heute noch (dazu unter 1.). Diese Bestrebungen hat der Kläger unterstützt (dazu unter 2.). Eine innere Abkehr des Klägers hiervon kann nicht festgestellt werden (dazu unter 3.).

19 1. Zwar ist nach den neuesten Verfassungsschutzberichten nicht mehr ohne weiteres davon auszugehen sein, dass sämtliche Mitglieder der IGMG dem extremistischen Personenpotenzial zuzurechnen sind (s. Bundesverfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2017, insb. S. 172, 214 und 216 und Verfassungsschutzbericht 2018, S. 170, 224 und 226 sowie Verfassungsschutz Berlin, Bericht 2017, S. 62 ff.). Daher sind nicht mehr sämtliche Mitglieder der Organisation dem extremistischen Personenpotenzial zuzurechnen (vgl. hierzu auch VG Berlin, Urteil vom 24. Januar 2018 – VG 13 K 279.16 – juris Rn. 25 und für Niedersachsen VG Braunschweig, Urteil vom 16. Dezember 2015 – 5 A 76/14 – juris Rn. 28 ff.). Für Teile der IGMG bleibt es gleichwohl dabei, dass Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass sie Bestrebungen verfolgen, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet sind. Insoweit hat sich für diese Mitglieder nichts an der vormaligen Einschätzung der IGMG geändert; zur weiteren Begründung wird insoweit auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. Februar 2011 – OVG 5 B 6.07 – juris Rn. 21 ff. verwiesen, dessen Ausführungen sich das Gericht zu eigen macht.

20 2. Dem Kläger war und ist nach Überzeugung des Gerichts bewusst, dass die an der Ideologie Erbakans ausgerichtete Milli-Görüş-Bewegung verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt. [...]

21 Der Kläger hat auch die verfassungsfeindlichen Bestrebungen von Teilen der IGMG im Sinne von § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG unterstützt, also Handlungen vorgenommen, die für Bestrebungen im Sinne dieser Vorschrift objektiv vorteilhaft sind, ohne dass es auf den Nachweis eines messbaren Nutzens ankommt.

22 Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger im Rahmen seiner Tätigkeit als Verantwortlicher der "Mittelstufenbetreuung der Jugendabteilung der IGMG" für Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren die auf der Ideologie Erbakans basierenden verfassungsfeindlichen Bestrebungen von Teilen der IGMG propagiert hat. [...]

26 Das Gericht ist daher davon überzeugt ist, dass der Kläger an der Erstellung und Gestaltung der Prezi-Präsentation unter Nutzung seines Prezi-Accounts aktiv beteiligt war und zudem die im Internet öffentlich zugängliche Präsentation auch so gebilligt hat. [...]

27 Als weiteres und zusätzliches Indiz dafür, dass der Kläger dem "traditionalistischen", verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgenden Teil der IGMG angehört, ist zudem zu berücksichtigen, dass er nach eigenen Angaben bereits in den Jahren 2009 bis 2013 als aktives Mitglied und Leiter an der Jugendarbeit der IGMG teilgenommen hat. Zu dieser Zeit war indes noch nicht davon auszugehen, dass die IGMG als Gesamtorganisation sich von der Ideologie Erbakans vollständig gelöst und die Verfolgung verfassungsfeindlicher Ziele aufgegeben hat. Den so genannten Reformern in der IGMG standen jedenfalls zu dieser Zeit mehrheitlich traditionalistisch eingestellte Anhänger Erbakans entgegen, die erwarteten, dass die IGMG dessen Forderungen nachkommt. Jedenfalls damals hatte eine glaubhafte programmatische Neuausrichtung der IGMG, mit der die alten, verfassungsfeindlichen Ziele als überwunden hätten angesehen werden können, nicht stattgefunden (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10. Februar 2011 – OVG 5 B 6.07 – juris Rn. 29 m.w.N.). [...]

31 Eine solche innere Abkehr kann beim Kläger nicht festgestellt werden, weil dieser eigene Unterstützungshandlungen verfassungsfeindlicher Bestrebungen durch jedenfalls Teile der IGMG in Abrede stellt und damit seine frühere Unterstützung bagatellisiert. Von einer Einsicht des Klägers bezüglich seines früheren Verhaltens oder einer Neubewertung kann angesichts dessen nicht die Rede sein. [...]