OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.01.2020 - 3 L 163.19 - asyl.net: M28121
https://www.asyl.net/rsdb/M28121
Leitsatz:

Familiennachzug trotz Schengen-Einreisesperre möglich:

Eine Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im Schengen-Informationssystem steht der Erteilung eines Visums nach § 6 Abs. 3 AufenthG zur Familienzusammenführung (hier zu anerkannten Flüchtlingen) nicht automatisch entgegen. Vielmehr müssen die Auslandsvertretung und die Ausländerbehörde eine eigenständige Entscheidung darüber treffen, ob etwa ein Ausweisungsinteresse i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG der Visumserteilung entgegensteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Einreiseverweigerung, Schengener Informationssystem, SIS, Familienzusammenführung, humanitäre Gründe, Interpol, nationales Visum, Visum, Einreisesperre, Befristung, Fahndungsersuchen, Ausschreibung zur Einreiseverweigerung, Bundespolizei, Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Aussetzung des Verfahrens,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 2, GG Art. 6, EMRK Art. 8, GR-Charta Art. 7, VwGO § 94, AufenthG § 6 Abs. 3, AufenthG § 27, AufenthG § 29, AufenthG § 30, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 15 Abs. 2 Nr. 3, SDÜ Art. 25 Abs. 1 S. 1, SGK Art. 14,
Auszüge:

[...]

15 b. Unter Zugrundelegung dieses Kontrollmaßstabes ist die angegriffene verwaltungsgerichtliche Entscheidung aufzuheben, denn das Verwaltungsgericht hätte eine Vorgreiflichkeit des beim Verwaltungsgericht Potsdam mit dem Begehren auf Löschung bzw. Befristung der Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem anhängigen Verfahrens für die vorliegende Klage auf Verpflichtung zur Erteilung eines Visums zum Familiennachzug nicht bejahen dürfen.

16 aa. Die Begründung des Aussetzungsbeschlusses zeigt eine gesetzliche oder rechtslogische Verknüpfung der Visumerteilung nach § 6 Abs. 3 AufenthG i.V.m. §§ 27, 29 und 30 AufenthG mit der durch die Bundespolizei erfolgten Ausschreibung zur  Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem nicht auf. [...]

17 bb. Die durch eine deutsche Behörde erfolgte Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem als solche steht der Erteilung eines nationalen Visums durch eine deutsche Auslandsvertretung nicht per se entgegen.

18 (1) Das Aufenthaltsgesetz normiert die bloße Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem nicht als Versagungsgrund für die Erteilung eines nationalen Visums zum Familiennachzug. Weder § 6 Abs. 3 AufenthG noch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG weisen einen entsprechenden Tatbestand auf. Ebenso wenig begründet die Ausschreibung ein Erteilungsverbot im Sinne des § 11 Abs. 1 AufenthG, der allein an eine Ausweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung anknüpft.

19 Insoweit unterscheidet sich die Rechtslage von den Voraussetzungen für die Erteilung eines Visums nach der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 [...], hier noch anwendbar in der Fassung durch die Verordnung (EU) 2016/399 [...]. Nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. a) Unterbuchst. v) des Visakodex ist das Schengen-Visum im  Sinne von Art. 1 Abs. 1 Visakodex zu verweigern, wenn der Antragsteller im Schengener Informationssystem zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist.

20 Die von dem Verwaltungsgericht angeführte Möglichkeit einer Zurückweisung an der Grenze nach § 15 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG vermag ebenso wenig eine Vorgreiflichkeit zu begründen. Nach dieser Bestimmung kann ein Ausländer an der Grenze zurückgewiesen werden, wenn er die Voraussetzungen für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien nach Art. 6 des Schengener Grenzkodex nicht erfüllt. Zwar darf ein Drittstaatsangehöriger nach den in Art. 6 SGK aufgeführten Einreisevoraussetzungen nicht im Schengener Informationssystem zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein (Art. 6 Abs. 1 Buchst. d) SGK). Die Zurückweisungsmöglichkeit bezieht sich jedoch nicht auf Inhaber eines nationalen Visums, weil deren Einreise nicht unerlaubt ist. § 15 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG erfasst nur die Einreise für Kurzzeitaufenthalte wie die einleitende Formulierung des Art. 6 Abs. 1 SGK verdeutlicht, die allein auf einen geplanten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen abstellt (vgl. auch Zeitler, in: HTK-AuslR, SGK Art. 6 Abs. 1 Nr. 2.2; Hailbronner, AuslR, Stand: April 2019, AufenthG § 15 Rn. 34; Funke- Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand: September 2019, § 15 Rn. 18).

21 (2) Auch nach Unionsrecht ist die hier begehrte Erteilung eines nationalen Visums durch die Bundesrepublik Deutschland trotz der bestehenden Ausschreibung zur Einreiseverweigerung nicht ausgeschlossen. [...]

24 Ungeachtet der Frage, ob sich aus der Regelung des Art. 25 Abs. 1 Satz 2 SDÜ, wonach der Aufenthaltstitel bzw. das Visum nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe erteilt wird, insbesondere aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen, ein weiterer Versagungsgrund für die nationale Visumerteilung ableiten lässt, gelten die Restriktionen für eine nationale Entscheidung über die Erteilung eines Visums nach Art. 25 Abs. 1 SDÜ jedoch nur in dem Fall, dass ein anderer Schengen-Mitgliedstaat den betreffenden Ausländer zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben hat. In dem hier zu beurteilenden Fall entscheidet die Bundesrepublik jedoch gleichermaßen autonom über den Fortbestand der allein von ihr veranlassten Ausschreibung zur Einreiseverweigerung wie über die Erteilung eines nationalen Visums für den längerfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet.

25 Nichts anderes würde sich im Übrigen auch dann ergeben, wann man hier Art. 27 VO (EU) 2018/1861, der Art. 25 SDÜ entsprechende Vorgaben enthält, für anwendbar hielte. [...]

26 Für eine Vorgreiflichkeit der Rechtmäßigkeit einer Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem kann auch aus Art. 14 SGK nichts hergeleitet werden. Nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 SGK wird einem Drittstaatsangehörigen, der nicht alle Einreisevoraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 SGK erfüllt und der nicht zu dem in Art. 6 Abs. 5 SGK genannten Personenkreis gehört, die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 SGK stellt indes klar, dass davon die Anwendung besonderer Bestimmungen unter anderem zur Ausstellung von Visa für längerfristige Aufenthalte unberührt bleibt. [...]

27 (3) Die von einer deutschen Behörde veranlasste Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem dürfte im Hinblick auf die in Art. 24 Abs. 2 der Verordnung (EG) 1987/2006 [...] genannten Voraussetzungen regelmäßig Anlass für eine Prüfung sein, ob der Erteilung des begehrten nationalen Visums der Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegensteht. Diese Prüfung obliegt jedoch der Auslandsvertretung bzw. der Ausländerbehörde ebenso in eigener Verantwortung wie die Aufklärung des hierfür relevanten Sachverhaltes (vgl. auch Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 15 Rn. 62). [...]