Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) nach
erneuter Ausstellung einer Aufenthaltskarte in Kenntnis der Ablehnungsgründe:
1. Die Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern begründet kein Aufenthaltsrecht, sondern bescheinigt es lediglich. Die Aufenthaltskarte hat im Unterschied zur Aufenthaltserlaubnis keinen rechtsbegründenden oder auch nur feststellenden, sondern lediglich deklaratorischen Charakter.
2. Weil die Aufenthaltskarte kein Aufenthaltsrecht begründet, ist die Behörde nicht gehindert, auch nach Erneuerung der Aufenthaltskarte den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt festzustellen. Bis zu einer Feststellung kommt dem Inhaber einer Aufenthaltskarte die Freizügigkeitsvermutung zu Gute. Die Verfahrensgarantien nach Art. 30 und 31 Richtlinie 2004/38/EG sind auch in Täuschungs- und Rechtsmissbrauchsfällen zu beachten.
3. Bei Täuschung oder Rechtsmissbrauch ist der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Regel festzustellen. Kriterien, die sich nicht auf unionsrechtliche Freizügigkeitstatbestände beziehen, bleiben bei der Ermessensentscheidung regelmäßig außer Betracht.
(Amtliche Leitsätze)
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Die Annahme des Klägers, er habe durch die Erteilung einer Aufenthaltskarte ein "Aufenthaltsrecht erworben", ist unzutreffend. Dem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen wird keine Aufenthaltskarte "erteilt", sondern lediglich ausgestellt (§ 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Im umgekehrten Fall wird sie – was den Gesetzgeber 2013 veranlasst hat, den insoweit irreführenden deutschen Gesetzestext zu korrigieren – nicht "widerrufen", sondern schlicht "eingezogen" (§ 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU – anders noch die bis 28. Januar 2013 gültige Fassung von § 5 Abs. 5 FreizügG/EU: Aufenthaltskarte kann "widerrufen" werden). Die Aufenthaltskarte hat im Unterschied zur Aufenthaltserlaubnis keinen rechtsbegründenden oder auch nur feststellenden, sondern lediglich einen deklaratorischen Charakter (vgl. EuGH, Urteil vom 12. März 2014 – Rs. C- 456/12 – juris, Rdnr. 60; Hessischer VGH, Beschluss vom 31. Juli 2019 – 7 B 1368/19 –, juris, Rdnr. 15; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. Oktober 2019 – OVG 3 S 64.19 –, juris, Rdnr. 7; Bayerischer VGH, Urteil vom 25. Mai 2019 – 10 BV 18.281 –, juris, Rdnr. 23). [...]
Die Aufenthaltskarte begründet somit nicht die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts, sondern bescheinigt sie lediglich; sie hat damit vor allem Ausweis- und Nachweisfunktion. Die behördliche Bestätigung der Freizügigkeitsstatus durch Ausstellung eines unionsbürgerrechtlichen Aufenthaltsdokuments löst vor allem die Verfahrensgarantien der Art. 30 und 31 Unionsbürgerrichtlinie (unter anderem Schriftform, Begründungserfordernis, aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs) aus, die nicht vom materiellen Bestehen des Freizügigkeitsstatus abhängen (VG Darmstadt, Urteil vom 3. März 2011 – 5 K 9/10.DA –, juris, Rdnr. 32; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht Kommentar, 12. Aufl. 2018, § 2 Rdnr. 156). Dies gilt auch in Täuschungs- und Missbrauchsfällen (Art. 35 Satz 2 Unionsbürgerrichtlinie). [...]
Kann der Kläger durch Ausstellung einer Aufenthaltskarte somit kein Aufenthaltsrecht "erwerben", verschafft ihm die rechtswidrige Ausstellung einer Aufenthaltskarte erst recht keine solche Rechtsposition. Wie bei der Feststellung eines Daueraufenthaltsrechts kommt es nicht darauf an, ob die Behörde den Freizügigkeitsstatus des Betroffenen fünf Jahre nicht angezweifelt hat, ihm eine Aufenthaltskarte ausgestellt und auch verlängert hat und während dieser Zeit eine Verlustfeststellung nicht getroffen hat. Voraussetzung für ein Daueraufenthaltsrecht ist der fünfjährige ununterbrochene materiell rechtmäßige Aufenthalt. Eine in dieser Zeit unterbliebene Verlustfeststellung hindert nicht, die Ausstellung einer Bescheinigung des Daueraufenthaltsrechts oder die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte zu versagen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 – BVerwG 1 C 22.14 –, juris, Rdnr. 17). [...]
Bei Täuschung und Rechtsmissbrauch ist der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Regelfall festzustellen und die Einziehung der Aufenthaltskarte anzuordnen (so auch Oberhäuser, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 2 FreizügG/ EU Rdnr. 52). [...]