OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 10.12.2019 - 13 ME 344/19 - asyl.net: M28204
https://www.asyl.net/rsdb/M28204
Leitsatz:

Eine Fortbestandsfiktion nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vermittelt weder eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 noch einen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Sinne des Art. 13 ARB 1/80.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Fortbestandsfiktion, Fiktionswirkung, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, ordnungsgemäße Beschäftigung, ordnungsgemäßer Aufenthalt,
Normen: AufenthG § 81 Abs. 4 S. 1, ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 13,
Auszüge:

[...]

4 Zu Recht ist das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang nicht von einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung des Antragstellers ausgegangen. Der Zeitraum, während dessen der Antragsteller sich auf der Grundlage der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG im Bundesgebiet aufgehalten und hier gearbeitet hat, kann bei der "ordnungsgemäßen Beschäftigung" im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 nicht berücksichtigt werden. Die Ordnungsmäßigkeit der Beschäftigung im Sinne dieser Bestimmung setzt nach der Rechtsprechung des EuGH eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt und damit ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraus (vgl. Urt. v. 20.9.1990, C-192/89, juris Rn. 30; Urt. v. 24.1.2008, C-294/06-, juris Rn. 30). Die Ausübung einer Beschäftigung im Rahmen einer Erlaubnis zum vorläufigen Aufenthalt, die nur bis zur endgültigen Entscheidung über das Aufenthaltsrecht gilt, kann hingegen nicht als "ordnungsgemäß" eingestuft werden (EuGH, Urt. v. 7.11.2013, C-225/12, juris Rn. 47). Ein solcher unbestrittener Aufenthaltsstatus liegt auch gerade dann nicht vor, wenn der bisherige Aufenthaltstitel gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG lediglich bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend gilt und der Verlängerungsantrag - wie hier - letztlich abgelehnt wird. Während des Verfahrens der behördlichen Prüfung des Verlängerungsantrags hat der Ausländer kein unbestrittenes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet, weil die Frage des Fortbestehens des Aufenthaltsrechts gerade erst geklärt werden soll. Die Regelung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vermittelt nur eine verfahrensrechtliche, keine materielle Position. Der betreffende Ausländer ist von vornherein mit dem Risiko einer nur vorläufigen Position auf dem Arbeitsmarkt seines  Aufenthaltsstaates bis zur endgültigen Entscheidung über seinen Antrag belastet (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.5.2013 - 1 C 16.12 -, juris Rn. 18; Urt. v. 30.3.2010 - 1 C 6.09 -, juris Rn. 22; Beschl. v. 10.5.1995 - 1 B 72.95 -, juris Rn. 3; Senatsbeschl. v. 18.12.2018 - 13 ME 495/18, V.n.b., Umdruck S. 3; Bay. VGH, Beschl. v. 18.8.2014 - 10 CS 14.1324 -, juris Rn. 8; Hess. VGH, Beschl. v. 15.10.2008 - 11 B 2104/08 -, juris Rn. 3; OVG LSA, Beschl. v. 7.7.2014 - 2 M 29/14 -, juris Rn. 14; OVG Sachsen, Beschl. v. 1.8.2014 - 3 B 104/14 -, juris Rn. 9; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, ARB 1/80, Art. 6, Rn. 44 f.; jew. m.w.N.).

5 Dieses Ergebnis wird entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch nicht durch die jüngere Rechtsprechung des EuGH zu Art. 13 ARB 1/80 in Frage gestellt.

6 Nach Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Der EuGH hat entschieden, dass diese Stillhalteklausel und diejenige in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls (BGBl. II, 1972, S. 386) zum Assoziationsabkommen zwischen der EWG und der Türkei vom 12. September 1963 ungeachtet des unterschiedlichen Wortlauts gleichartig seien und beide Klauseln dasselbe Ziel verfolgten (vgl. EuGH, Urt. v. 21.10.2003 - C-317/01 und C-369/01 -, juris Rn. 68 ff.; Urt. v. 17.9.2009 - C-242-06 -, juris Rn. 65, m.w.N.), nämlich durch günstige Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer (Art. 13 ARB 1/80), des Niederlassungsrechts und des freien Dienstleistungsverkehrs (Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls) zu schaffen. Aus diesem Grunde ist es den innerstaatlichen Stellen verboten, neue Hindernisse für diese Freiheiten einzuführen, um die schrittweise Herstellung dieser Freiheiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Türkei nicht zu erschweren. Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls und Art. 13 ARB 1/80 ergänzen sich mithin gegenseitig in ihrem jeweiligen Regelungsbereich.

7 Gleichzeitig hat der EuGH aber festgestellt, dass der ARB 1/80 zwar nicht nur auf bereits in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaats integrierte türkische Staatsangehörige Anwendung finde, sich aber doch nur auf Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen beziehe, deren Aufenthalt und Beschäftigung in seinem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sei (vgl. Urt. v. 21.10.2003 - C-317/01 und C-369/01 -, juris Rn. 84). Er hat dies in seiner Entscheidung vom 7. November 2013 (C-225/12, juris Rn. 48) dahingehend präzisiert, dass sich der Begriff "ordnungsgemäß" im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 auf eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position im Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaats beziehe, die ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraussetze. Daher könnten die Aufenthalts- und gegebenenfalls Beschäftigungszeiten eines türkischen Staatsangehörigen im Rahmen einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis, die nur bis zur endgültigen Entscheidung über sein Aufenthaltsrecht gelte, nicht als ordnungsgemäß im Sinne dieses Artikels eingestuft werden. Genau dies trifft auf die Fortbestandsfiktion des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zu (vgl. Bergmann/Dienelt, a.a.O., Art. 13, Rn. 25). Insgesamt behandelt der EuGH Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls nur hinsichtlich des Ziels und der Auslegung des Begriffs "neue Beschränkungen" (vgl. dazu auch: OVG Niedersachsen, Urt. v. 15.3.2011 - 11 ME 59/11 -, juris Rn. 9: Deutschkenntnisse) gleich, nicht aber hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen der beiden Vorschriften. Während Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls für die Berufung auf die Stillhalteklausel der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit keinen ordnungsgemäßen Aufenthalt verlangt, ist dies nach dem klaren Wortlaut des Art. 13 ARB 1/80 im Hinblick auf die Freizügigkeit für Arbeitnehmer demgegenüber der Fall (missverständlich: Bergmann/Dienelt, a.a.O., Rn. 26). [...]