VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 04.03.2020 - A 4 S 457/20 - asyl.net: M28230
https://www.asyl.net/rsdb/M28230
Leitsatz:

Die Überschreitung der Frist zur Urteilsverkündung begründet nicht automatisch einen Gehörsverstoß:

"Die Zweiwochenfrist des § 116 Abs. 2 VwGO ist eine Verfahrensvorschrift mit zwingendem Inhalt. Sie soll den Zusammenhang zwischen mündlicher Verhandlung und Urteil wahren und gewährleisten, dass das Vorbringen der Beteiligten vom Gericht nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch bei der Entscheidungsfindung tatsächlich in Erwägung gezogen worden ist. Die Regelung dient somit der Sicherung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

Ob die Überschreitung der Zweiwochenfrist einen Gehörsverstoß im Sinne von § 138 Nr. 3 VwGO begründet, bemisst sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles. Ein Beruhen kann umso eher ausgeschlossen werden, je geringer die zeitliche Überschreitung der Zweiwochenfrist ist, je detaillierter das Protokoll Inhalt und Ablauf der mündlichen Verhandlung - d.h. bei Asylverfahren insbesondere die Angaben des Klägers im Rahmen seiner informatorischen Anhörung - wiedergibt, je genauer sich das Urteil mit dem Vortrag der Beteiligten auseinandersetzt und je pauschaler der Beteiligte die Verletzung des Mündlichkeitsprinzips rügt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, mündliche Verhandlung, Urteil, Zweiwochenfrist, rechtliches Gehör, Protokoll, Verfahrensfehler, Berufungszulassungsantrag, Gehörsverstoß, Mündlichkeitsprinzip,
Normen: VwGO § 108 Abs. 1 S. 2, VwGO § 116 Abs. 2, VwGO § 138 Nr. 3, VwGO § 138 Nr. 6, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, GG Art. 103 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger weist zwar zutreffend darauf hin, dass das angefochtene Asylurteil des Verwaltungsgerichts aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 23.10.2019 am 23.12.2019 und somit erst nach zwei Monaten fertiggestellt und der Geschäftsstelle übergeben worden ist; eine vorherige Übergabe (nur) des Tenors an die Geschäftsstelle ist den Akten nicht zu entnehmen. Es liegt folglich ein Verstoß gegen § 116 Abs. 2 VwGO vor, wonach das Urteil - bzw. in analoger Anwendung des § 117 Abs. 4 Satz 2 VwGO jedenfalls die vom Richter unterschriebene Urteilsformel (BVerwG, Urteil vom 10.11.1999 - 6 C 30.98 -, Juris Rn. 22) - innerhalb von zwei Wochen der Geschäftsstelle übergeben werden muss. § 116 Abs. 2 VwGO sieht vor, dass der Richter sich unmittelbar nach der mündlichen Verhandlung, spätestens aber zwei Wochen danach im Ergebnis festlegt (BVerwG, Urteil vom 10.11.1999 - 6 C 30.98 -, Juris Rn. 26). Diese Zwei-Wochen-Frist ist keine reine Ordnungsvorschrift, sondern eine Verfahrensvorschrift mit zwingendem Inhalt (Gemeinsamer Senat, Beschluss vom 27.04.1993 - GmS-OGB 1.92 -, Juris Rn. 11). Ihre Verletzung stellt daher grundsätzlich einen Verfahrensmangel dar (BVerwG, Beschluss vom 10.03.2014 - 8 B 34.11 -, Juris Rn. 9, m.w.N.). Aus diesem Verfahrensmangel lässt sich allerdings nicht automatisch folgern, dass das erst nach Ablauf der Zweiwochenfrist gefertigte Urteil im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen wäre. Dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn das angegriffene Urteil auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.

Nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind in dem verwaltungsgerichtlichen Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Dieser Verpflichtung ist nur dann genüge getan, wenn die Entscheidungsgründe, die in das schriftlich abzufassende und von den mitwirkenden Richtern zu unterzeichnende Urteil aufgenommen worden sind, mit den Gründen übereinstimmen, die nach dem Ergebnis der Urteilsberatung für die richterliche Überzeugung und für die von dieser getragenen Entscheidung maßgeblich waren. Ist der Zusammenhang der schriftlichen Urteilsgründe mit der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Urteils aufgrund der großen Zeitspanne nicht mehr gewährleistet, ist das Urteil nicht mit Gründen versehen im Sinne von § 138 Nr. 6 VwGO. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die sich auf die in §§ 517, 548 ZPO zum Ausdruck kommende Wertung stützt, ist ein solcher Zusammenhang grundsätzlich erst dann nicht mehr gewährleistet und greift daher die Kausalitätsvermutung des § 138 Nr. 6 VwGO ein, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht innerhalb von fünf Monaten nach der Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind (BVerwG, Urteile vom 10.11.1999 - 6 C 30.98 -, Juris Rn. 23, und vom 03.08.1998 - 7 B 236.98 -, Juris Rn. 6; Beschluss vom 27.08.2014 - 3 B 2.14 -, Juris Rn. 10; vgl. auch Gemeinsamer Senat, Beschluss vom 27.04.1993 - GmS-OGB 1.92 -, Juris); Entsprechendes gilt in Fällen, in denen das Urteil gemäß § 116 Abs. 2 VwGO anstelle der Verkündung zugestellt wird (BVerwG, Beschluss vom 03.05.2004 - 7 B 60/04 -, Juris Rn. 4). Bei Einhaltung der Fünfmonatsfrist kann das Urteil nur im Einzelfall als im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen gelten, sofern nämlich zu dem Zeitablauf als solchem Umstände hinzukommen, die die bereits wegen des Zeitablaufs bestehenden Zweifel zu der Annahme verdichten, dass der gesetzlich geforderte Zusammenhang zwischen der Urteilsfindung und den schriftlichen niedergelegten Gründen nicht mehr gewahrt ist (BVerwG, Beschluss vom 09.08.2004 - 7 B 20.04 -, Juris Rn. 17, Urteil vom 30.05.2012 - 9 C 5.11 -, Juris Rn. 24, und Beschluss vom 27.08.2014 - 3 B 2.14 -, Juris Rn. 10).

Maßgeblich für die Frage der Verspätung ist danach die Zeitspanne zwischen Urteilsfindung (vgl. zu den verschiedenen Ansichten zum Beginn der Frist Bay. VGH, Beschluss vom 23.04.2019 - 13a ZB 18.32206 -, Juris Rn. 6) und der Übergabe der vollständig abgefassten Urteilsgründe an die Geschäftsstelle. Denn im Rahmen des § 138 Nr. 6 VwGO geht es um die Beurkundungsfunktion des Urteils, also die Frage, ob die Gründe des Urteils zuverlässig diejenigen Erwägungen wiedergeben, welche für das Ergebnis der Entscheidung ausschlaggebend waren. Nicht von Relevanz in diesem Zusammenhang ist hingegen der Zeitraum zwischen mündlicher Verhandlung und Fällung der Entscheidung und die Frage, ob infolge einer verzögerten Entscheidungsfindung das Mündlichkeitsprinzip verletzt ist; insoweit ist vielmehr gegebenenfalls § 138 Nr. 3 VwGO einschlägig (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.11.1999 - 6 C 30.98 -, Juris Rn. 22 f., und Beschluss vom 06.05.1998 - 7 B 437.97 -, Juris Rn. 5; Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2019, § 138 Rn. 158). [...]

Der hier vorliegende Verstoß gegen § 116 Abs. 2 VwGO begründet allerdings im Ergebnis auch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs im Sinne von § 138 Nr. 3 VwGO (vgl. zur Unschädlichkeit der Erörterung von Vorbringen unter dem unzutreffenden Zulassungsgrund: BVerfG, Beschluss vom 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 -, Juris Rn. 25).

Die fristgerechte Entscheidungsfindung, die § 116 Abs. 2 VwGO gebietet, soll nicht nur den Beteiligten alsbald Gewissheit über die getroffene Entscheidung verschaffen; in erster Linie soll sie vielmehr den notwendigen Zusammenhang zwischen mündlicher Verhandlung und Urteil wahren und gewährleisten, dass das schriftliche und mündliche Vorbringen der Beteiligten vom Gericht nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch bei der Entscheidungsfindung tatsächlich in Erwägung gezogen worden ist. § 116 Abs. 2 VwGO dient somit der Sicherung des Anspruchs der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (BVerfG, Beschluss vom 14.03.1990 - 2 BvR 930/89 -, Juris Rn. 8; BVerwG, Urteile vom 10.11.1999 - 6 C 30.98 -, Juris Rn. 25 ff., und vom 25.01.1985 - 4 C 34.81 -, Juris Rn. 9, sowie Beschluss vom 06.05.1998 - 7 B 437.97 -, Juris Rn. 4 f.).

Dies bedeutet jedoch entgegen der Auffassung des Klägers nicht, dass jede Verletzung von § 116 Abs. 2 VwGO automatisch oder jedenfalls dann, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, einen Gehörsverstoß - und in der Folge einen Verfahrensverstoß im Sinne des § 138 Nr. 3 VwGO - begründet. Vielmehr ist die Frage, inwieweit die verspätete Übergabe (auch) des Tenors an die Geschäftsstelle den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, stets nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, wobei dem Ausmaß der Fristüberschreitung eine wichtige Indizfunktion zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.02.2001 - 2 BvR 62/01 -, Juris Rn. 3; BVerwG, Urteile vom 10.11.1999 - 6 C 30.98 -, Juris Rn. 25, und vom 11.12.2003 - 7 C 19.02 -, Juris Rn. 22; ebenso OVG LSA, Beschluss vom 01.03.2001 - 1 L 6/11 -, Juris Rn. 8; OVG NRW, Beschluss vom 07.11.2001 - 5 A 1352/10 -, Juris Rn. 48; OVG RP, Beschluss vom 09.05.2003 - 8 A 10564/03 -, Juris Rn. 11; Bay. VGH, Beschluss vom 09.04.2001 - 19 ZB 00.32356 -, Juris Rn. 4; enger wohl BVerwG, Beschlüsse vom 06.05.1998 - 7 B 437.97 -, Juris Rn. 4, und vom 07.07.1998 - 9 B 931.97 -, Juris Rn. 2). Je gravierender die Zweiwochenfrist vom Verwaltungsgericht überschritten worden ist, je oberflächlicher Inhalt und Ablauf der mündlichen Verhandlung im Protokoll festgehalten wurden, je weniger sich die Angaben der Beteiligten im Urteil wiederfinden und je konkreter der Beteiligte darlegt, welche entscheidungserheblichen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkte, die er (erstmals) in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, im Urteil nicht zur Kenntnis genommen und gewürdigt wurden, desto eher wird ein Gehörsverstoß anzunehmen sein, mithin das Urteil auf dem Verstoß gegen § 116 Abs. 2 VwGO beruhen können. Spiegelbildlich gilt, dass ein Beruhen umso eher ausgeschlossen werden kann, je geringer die zeitliche Überschreitung der Zweiwochenfrist ist, je detaillierter das Protokoll Inhalt und Ablauf der mündlichen Verhandlung - d.h. bei Asylverfahren insbesondere die Angaben des Klägers im Rahmen seiner informatorischen Anhörung - wiedergibt, je genauer sich das Urteil mit dem Vortrag der Beteiligten auseinandersetzt und je pauschaler der Beteiligte die Verletzung des Mündlichkeitsprinzips rügt. [...]