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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 26.05.2020 - 1 C 12.19 (Asylmagazin 9/2020, S. 323 f.) - asyl.net: M28632
https://www.asyl.net/rsdb/M28632
Leitsatz:

Familiennachzug ausländischer Mutter zum minderjährigen deutschen Kind trotz "missbräuchlicher" Anerkennung der Vaterschaft:

"1. Dem Ausschlussgrund des § 27 Abs. 1a Nr. 1 Alt. 2 AufenthG unterfällt nicht die Begründung eines Verwandtschaftsverhältnisses zwischen einem seine Vaterschaft ohne genetische Abstammung anerkennenden deutschen Staatsangehörigen und einem minderjährigen ledigen Kind mit dem Ziel, dessen ausländischer Mutter ein Aufenthaltsrecht zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zu ermöglichen.

2. Die Erteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird durch die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels nicht aufgehoben.

3. Anspruch im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AufenthG ist nur ein strikter Rechtsanspruch, der sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt und der voraussetzt, dass alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind (Bestätigung von BVerwG, Urteile vom 16. Dezember 2008 - 1 C 37.07 - BVerwGE 132, 382 Rn. 21 und vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 Rn. 20 ff.).

4. Ein Ausländer, dem nach Rücknahme eines Asylantrags eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt wurde, kann nach § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV die Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu einem anderen Zweck vom Inland aus begehren.

5. Ein Ausländer, dessen Aufenthaltserlaubnis gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG fortgilt, ist jedenfalls dann im Sinne des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, wenn ihm die Verlängerung der bisherigen Aufenthaltserlaubnis zugesichert worden ist."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Vaterschaftsanerkennung, Vaterschaftsanfechtung, deutsches Kind, deutsche Staatsangehörigkeit, missbräuchliche Anerkennung der Vaterschaft, Sperrwirkung, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Visumsverfahren, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, familiäre Lebensgemeinschaft,
Normen: RL 2003/86/EG Art. 16 Abs. 2 UAbs. 1 Bst. b, RL 2003/86/EG Art. 16 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 10 Abs. 3, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 27 Abs. 1, AufenthG § 27 Abs. 1a Nr. 1, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 81 Abs. 4 S. 1, AufenthV § 39 S. 1 Nr. 1, BGB § 1592 Nr. 2, BGB § 1597a Abs. 1, BGB § 1599 Abs. 1, BGB § 1754, BGB § 1600b Abs. 1a, StAG § 3 Abs. 1 Nr. 1, StAG § 4 Abs. 1, VwGO § 63 Nr. 4, VwGO § 162 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

28 bb) Jedenfalls unterfällt dem Ausschlussgrund des § 27 Abs. 1a Nr. 1 Alt. 2 AufenthG nicht die Fallgestaltung der Begründung eines Verwandtschaftsverhältnisses zwischen einem seine Vaterschaft ohne genetische Abstammung anerkennenden deutschen Staatsangehörigen und einem minderjährigen ledigen Kind mit dem Ziel, dessen ausländischer Mutter ein Aufenthaltsrecht zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zu ermöglichen. Die Norm findet insoweit weder unmittelbar ((1)) noch analog ((2)) Anwendung.

29 (1) Gegen eine unmittelbare Anwendung des § 27 Abs. 1a Nr. 1 Alt. 2 AufenthG auf die streitgegenständliche Fallgestaltung streiten die grammatische ((a)), systematische ((b)), historisch-genetische ((c)) und teleologische ((d)) Auslegung der Norm.

30 (a) Bereits der Wortlaut des § 27 Abs. 1a Nr. 1 Alt. 2 AufenthG und dessen unmittelbarer Bezug zu § 27 Abs. 1 AufenthG lassen ein Normverständnis, zwischen dem die Vaterschaft anerkennenden deutschen Staatsangehörigen und dem Kind der den Nachzug begehrenden Ausländerin werde ein Verwandtschaftsverhältnis im Sinne des Ausschlussgrundes begründet, fernliegend erscheinen. [...]

32 (b) Gegen eine Erstreckung auf Verwandtschaftsverhältnisse, die durch ein Vaterschaftsanerkenntnis begründet worden sind, auch in Fällen, in denen dieses Verhältnis nicht zwischen dem nachzugswilligen und zusammenführenden Familienangehörigen begründet worden ist, streitet auch das Ziel der Regelung, Art. 16 Abs. 2 Unterabs. 1 Alt. 2 Buchst. b RL 2003/86/EG umzusetzen (s.o. 2.2.2. b) aa)). Die Nutzung des Begriffs des Verwandtschaftsverhältnisses in § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG kann terminologisch zwar auch solche Beziehungen umfassen, die durch Vaterschaftsanerkennung und nicht (allein) durch Ehe, Lebenspartnerschaft oder Adoption begründet worden sind. Eine derart überschießende Umsetzung in der Weise, die über eine Erweiterung des personellen Anwendungsbereichs auf den Familiennachzug zu deutschen Stammberechtigten hinaus sachlich dem Grunde nach durch Vaterschaftsanerkennung begründete Verwandtschaftsverhältnisse erfasste, änderte nichts daran, dass auch Art. 16 Abs. 2 Unterabs. 1 Alt. 2 Buchst. b RL 2003/86/EG im  Ansatz auf das Verhältnis zwischen Zusammenführenden und dem einen Familiennachzug begehrenden Familienangehörigen abstellt (s.a. Art. 2 Buchst. c RL 2003/86/EG); die Erstreckung auf ein "Dreiecksverhältnis" der vorliegenden Art bewirkte eine zusätzliche, durch die Nutzung des Begriffs "Verwandtschaftsverhältnis" nicht vorgezeichnete Erweiterung.

33 (c) Ein jedenfalls auf die Begründung eines Verwandtschaftsverhältnisses zwischen nachzugswilliger und zusammenführender Person begrenztes Verständnis des § 27 Abs. 1a Nr. 1 Alt. 2 AufenthG spiegelt sich auch in der Begründung des Entwurfs des Gesetzes vom 19. August 2007 zur Umsetzung aufenthaltsund asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (BGBl. I S. 1970, ber. BGBl. 2008 I S. 992) wider. [...]

43 (2) Nach dem Vorstehenden scheidet auch eine analoge Anwendung des § 27 Abs. 1a Nr. 1 Alt. 2 AufenthG auf die Konstellation der Begründung eines Verwandtschaftsverhältnisses zwischen einem seine Vaterschaft anerkennenden deutschen Staatsangehörigen und einem minderjährigen ledigen Kind mit dem Ziel, dessen ausländischer Mutter ein Aufenthaltsrecht zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zu ermöglichen, aus, da es jedenfalls an der insoweit erforderlichen planwidrigen Regelungslücke fehlt.

44 Dass es der Gesetzgeber planwidrig unterlassen hat, die betreffende Fallgestaltung einer Regelung in § 27 Abs. 1a Nr. 1 Alt. 2 AufenthG zuzuführen, lässt sich im Lichte der vorstehenden Ausführungen nicht feststellen. Die Entstehungsgeschichte weder des Gesetzes zur Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der Vaterschaft noch des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union liefert verlässliche Anknüpfungspunkte, dass der Gesetzgeber beabsichtigte, die streitgegenständliche Fallgestaltung der Nichtzulassung des Familiennachzuges im Sinne des § 27 Abs. 1a Nr. 1 Alt. 2 AufenthG zu unterwerfen. Derartiger Anknüpfungspunkte hätte es indes gerade vor dem Hintergrund der mit der Einführung eines Anfechtungsrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch verfolgten "Stärkung des Grundsatzes, familienrechtliche Statusentscheidungen auch für das Staatsangehörigkeits- und Ausländerrecht gelten zu lassen" (BT-Drs. 16/3291 S. 12), bedurft.

45 c) Bezogen auf den hier noch streitgegenständlichen Zeitraum ab dem 22. März 2016, steht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen; auch sind die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen erfüllt. [...]

47 aa) § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sperrt unter anderem im Falle der Rücknahme eines Asylantrags die Erteilung solcher Aufenthaltstitel, die nicht in Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes normiert sind. Er steht daher grundsätzlich einer Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug vom Inland aus entgegen.

48 Diese Erteilungssperre für solche anderen Zwecken dienende Aufenthaltserlaubnisse wird durch die Erteilung und Verlängerung eines humanitären Aufenthaltstitels, hier einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, nicht aufgehoben (so bereits OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9. Juni 2011 - 2 B 2.10 - juris Rn. 34 ff.; ebenso Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 10 Rn. 40). [...]

52 (1) Der Begriff des Anspruchs auf Erteilung bezeichnet wie in § 10 Abs. 1 AufenthG allein den gesetzlichen Anspruch, mithin einen strikten Rechtsanspruch, der sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt und der voraussetzt, dass alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. Nur dann hat der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen. § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 AufenthG hätte es nicht bedurft, wenn auch Regelansprüche oder Ansprüche auf Grund von Soll-Vorschriften dem Begriff des Anspruchs im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AufenthG unterfielen. Ebenso wenig liegt ein Anspruch im vorstehenden Sinne im Falle einer Ermessensreduzierung auf Null vor (BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - 1 C 37.07 - BVerwGE 132, 382 Rn. 21; OVG Lüneburg, Beschluss vom 5. September 2017 - 13 LA 129/17 - BeckRS 2017, 124304 Rn. 14 ff.; vgl. ferner BVerwG, Urteile vom 10. Dezember 2014 - 1 C 15.14 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 16 Rn. 15 zu § 39 Nr. 5 AufenthV, vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - BVerwGE 153, 353 Rn. 20 ff. und vom 12. Juli 2016 - 1 C 23.15 - Buchholz 402.242 § 10 AufenthG Nr. 6 Rn. 21 m.w.N., jeweils zu § 10 Abs. 1 AufenthG). [...]

54 (a) § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV findet auch für den Fall Anwendung, dass dem Ausländer nach Rücknahme eines Asylantrages zunächst eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt wurde und dieser nunmehr die Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG begehrt (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. März 2019 - 11 B 5.17 - juris Rn. 41; VG Aachen, Urteil vom 10. Februar 2010 - 8 K 2258/08 - juris Rn. 24 f.; a.A. VG Potsdam, Urteile vom 12. Januar 2016 - 8 K 2622/14 - juris Rn. 25 und vom 31. Mai 2017 - 8 K 2926/14 - juris Rn. 20).

55 Die fehlende Erfüllung der Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bei der ursprünglichen Einreise steht in den Fällen der Nr. 1 einem Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nicht entgegen (BRDrs. 731/04 S. 182). Macht die Ausländerbehörde von der ihr im Zuge der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG eröffneten Möglichkeit eines Absehens von der Verweisung des Ausländers auf das Visumverfahren Gebrauch und erteilt sie diesem nicht allein eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG, sondern legalisiert sie dessen Aufenthalt, so verbleibt für eine einschränkende Anwendung des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV mit dem Ziel, das Erfordernis der Zuzugssteuerung nicht zu entwerten, kein Raum. [...]

60 (b) Dass sich die Klägerin nach dem Ablauf der Geltungsdauer der ihr erteilten Aufenthaltserlaubnis nurmehr im Besitz einer Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG befindet, steht der Anwendung des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV nicht entgegen.

61 In Rechtsprechung und Schrifttum wird die Frage, ob auch die Fortbestehensfiktion, der bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über die Verlängerung oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels eine allein rechtswahrende, nicht hingegen auch rechtsbegründende Funktion zukommt, den Tatbestand des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV ausfüllt, unterschiedlich beurteilt (vgl. etwa OVG Schleswig, Beschluss vom 9. Februar 2016 - 4 MB 6/16 - juris Rn. 13; VGH Kassel, Beschluss vom 28. Oktober 2019 - 7 B 1729/19 - InfAuslR 2020, 157 <158 f.>; ferner Engels, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: 1. Januar 2020, § 39 AufenthV Rn. 3 f.; Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier - Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand: September 2018, § 5 AufenthG Rn. 112).

62 Jedenfalls in einer Konstellation wie der vorliegenden, in der ungeachtet des Vorliegens der Erteilungsvoraussetzungen und des Fehlens von Versagungsgründen zwar nicht die Neuerteilung der beantragten, wohl aber die Verlängerung der vormaligen Aufenthaltserlaubnis durch die Ausländerbehörde zugesichert worden ist, ist der Ausländer so zu behandeln, als wäre er weiterhin im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 AufenthV im Besitz der als fortgeltend fingierten Aufenthaltserlaubnis. In einer solchen Fallgestaltung rechtfertigt es allein der Umstand, dass die Ausländerbehörde über einen fristgerecht gestellten Antrag ohne zureichenden Grund nicht entscheidet, nicht, dem Ausländer den Nichtbesitz einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV entgegenzuhalten (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Februar 2020, § 81 AufenthG Rn. 32; Kluth, in: Kluth/Heusch,  BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1. November 2019, § 81 Rn. 34). [...]