VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 08.05.2020 - 8 A 275/19 - asyl.net: M28778
https://www.asyl.net/rsdb/M28778
Leitsatz:

Familienflüchtlingsschutz bei Mehrehe:

"Bei Bestehen einer Mehrehe schließen weder der Normzweck noch höherrangiges Recht den Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG aus."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Mehrehe, Zweitehe, Familienschutz, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: AsylG § 26, GG Art. 6 GG
Auszüge:

[...]

28 Den Anforderungen dieses Ehebegriffs genügt die Ehe zwischen Herrn […] und der Klägerin, die ausweislich der in Kopie vorgelegten Heiratsurkunde (Bl. […] der Gerichtsakte) am […] 1982 geschlossen und am […] 1992 registriert wurde.

29 Unschädlich ist, dass der Ehegatte der Klägerin bereits im Irak eine weitere Ehe einging, die am […] 2004 registriert wurde (Bl. […] der Gerichtsakte).

30 Denn in der Republik Irak ist die Eheschließung eines Mannes mit mehr als einer Frau gemäß Art. 3 Abs. 4 und 7 des Personalstatusgesetzes in der Fassung vom 2. Juli 1999 zulässig (vgl. zur deutschsprachigen Übersetzung der Norm www.familienrecht-in-nahost.de/22948/irak-PSG-Ehe, zuletzt abgerufen am 7.5.2020, ferner CEDAW, Seventh periodic report submitted by Iraq, 15.8.2018, S. 39, sowie BFA, Anerkennung traditionell geschlossener Ehe, 26.7.2018, S. 2 f.). Erst recht bleibt danach die Wirksamkeit der ersten Ehe vom Eingehen einer weiteren Ehe unberührt.

31 Die von dem aufgezeigten Begriffsverständnis ermöglichte Ableitung von Flüchtlingsschutz in Mehrehen (vgl. dazu bereits VGH Kassel, Urt. v. 6.11.2018, 3 A 247/17.A, Rn. 11, juris, VG Darmstadt, Gerichtsbesch. v. 5.9.2002, 3 E 1490/02.A(4), NVwZ-Beilage I 3/2003, S. 23 [obiter dictum], sowie Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 26 AsylG, Rn. 12, Epple in GK-AsylG, 119. Ergänzungslieferung März 2019, § 26 Rn. 39 f., Günther in BeckOK, Ausländerrecht, 24. Edition 1.11.2019, § 26 Rn. 8, Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 27; Schröder in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl 2016, § 26 AsylG, Rn. 8, Hailbronner, Ausländerrecht, 86. Aktualisierung Juni 2014, § 26 AsylG, Rn. 35) ist im hiesigen Fall auch mit dem Sinn und Zweck der Norm (dazu (1.)) sowie mit höherrangigem Recht (dazu (2.)) vereinbar.

32 (1.) Eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereiches von § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG dahingehend, dass vom Begriff der Ehe nur die Einehe umfasst ist, ist nicht angezeigt. Vielmehr ist die tatbestandliche Berücksichtigung von Ehegatten in Mehrehen nach dem Sinn und Zweck der Norm geboten.

33 Denn die Gewährung von abgeleitetem Flüchtlingsschutz an Ehegatten folgt insbesondere der Erwägung, dass dies wegen der Nähe des Ehegatten zum Verfolgungsgeschehen und der daraus gleichfalls für ihn herrührenden Gefahr – die ungeprüft bleibt – gerechtfertigt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.1.1992, 9 C 63/91, Rn. 12, Urt. v. 15.12.1992, 9 C 61/91, Rn. 7, sowie VGH München, Urt. v. 5.9.2019, 21 B 16.31043, Rn. 19, VG Karlsruhe, Urt. v. 29.1.2018, A 3 K 6202/16, Rn. 28; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 18.12.2019, 1 C 2/19, Rn. 19, alle juris). Hierbei wird die richterrechtlich entwickelte Regelvermutung weitergeführt, welche an die Erfahrung anknüpft, dass im Kampf gegen oppositionelle Kräfte unduldsame Staaten dazu neigen, anstelle des politischen Gegners, dessen sie nicht habhaft werden können, auf Personen zurückzugreifen, die dem Verfolgten besonders nahestehen, um hierdurch in der einen oder anderen Weise ihr auf Unterdrückung abweichender Meinungen gerichtetes Ziel doch noch zu erreichen (vgl. BVerwG, Urt. v. 2.7.1985, 9 C 35/84, Rn. 7, Urt. v. 21.1.1992, 9 C 63/91, Rn. 12 sowie Beschl. v. 18.12.2019, 1 C 2/19, Rn. 19, alle juris). Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, dass sich die weiteren Ehegatten des Verfolgten, die mit diesem schon im Herkunftsstaat zusammenlebten (vgl. zu diesem Erfordernis noch unter lit. bb.), in einer von derjenigen des ersten Ehegatten abweichenden Gefährdungslage befanden bzw. befinden (so auch Epple in GK-AsylG, 119. Ergänzungslieferung März 2019, § 26 Rn. 40, und Günther in BeckOK, Ausländerrecht, 24. Edition 1.11.2019, § 26 Rn. 8 und 2).

34 Die darüber hinaus bestehenden Gesetzeszwecke – namentlich die Entlastung von Behörden und Gerichten, die Erleichterung der Integration der engen Familienangehörigen sowie die Berücksichtigung des Gedankens der Familieneinheit (vgl. dazu Hailbronner, Ausländerrecht, 108. Aktualisierung Januar 2019, § 26 AsylG, Rn. 3, unter Hinweis auf BT-Drs. 11/6960, S. 29 f. und BT-Drs. 15/420, S. 109, während in BVerwG, Beschl. v. 18.12.2019, 1 C 2/19, Rn. 19, juris, nur von einer "Doppelfunktion" die Rede ist: Schutz der dem Verfolgten besonders nahestehenden Personen vor Verfolgung und Wahrung der Familieneinheit) – zwingen ebenfalls nicht dazu, den Begriff der Ehe in § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG enger zu fassen, da die Berücksichtigung von Ehegatten in Mehrehen ihnen nicht zuwiderläuft.

35 (2.) Das dargestellte Begriffsverständnis ist im vorliegenden Fall auch nicht mit höherrangigem Recht unvereinbar.

36 Dies gilt zunächst mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG.

37 Zwar gebietet es Art. 6 Abs. 1 GG nicht, die Mehrehe als vom Begriff der Ehe in § 26 Abs. 1 AsylG umfasst anzusehen (vgl. Epple in GK-AsylG, 119. Ergänzungslieferung März 2019, § 26 Rn. 40; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschl. v. 3.6.1991, 2 BvR 720/91, juris, Rn. 3, sowie BVerwG, Urt. v. 7.3.1995, 9 C 389/94, Rn. 11, beide juris, die ein unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 GG folgendes Asylrecht von Familienangehörigen verneinen). Das Art. 6 Abs. 1 GG innewohnende Prinzip der Einehe als verfassungsrechtliches Strukturprinzip steht der Schutzgewährung an Ehegatten in Mehrehen jedoch auch nicht entgegen.

38 Insoweit ist – anders als die Beklagte mit Teilen der Rechtsprechung meint (vgl. etwa VG Oldenburg, Urt. v. 19.10.2011, 3 A 2625/10, UA S. 9 ff., m.w.N.; vgl. ferner krit. OVG Lüneburg, Beschl. v. 21.3.2012, 13 LA 245/11, BA S. 5, beide juris) – zwischen dem Recht des Familiennachzugs und demjenigen des Familienflüchtlingsschutzes zu differenzieren.

39 Die ausländerrechtlichen Familiennachzugsregeln in §§ 27 ff. AufenthG sollen den grundgesetzlich (und von der Richtlinie 2003/86/EG mittlerweile auch unionsrechtlich) gebotenen Schutz von Ehe und Familie einfachgesetzlich ausformen: Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ist nicht auf rein inlandsbezogene Ehen beschränkt; vielmehr umfasst er eheliche und familiäre Lebensgemeinschaften unabhängig davon, wo und nach Maßgabe welcher Rechtsordnung sie begründet wurden und ob die Rechtswirkungen des ehelichen oder familiären Bandes nach deutschem oder ausländischem Recht zu beurteilen sind. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Lebensgemeinschaften ehelicher und familiärer Art, die der Vorstellung des Grundgesetzes von Ehe und Familie fremd sind, ohne Weiteres dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG unterfielen (vgl. nur Tewocht in BeckOK AuslR, 25. Edition, 1.3.2020, § 27 AufenthG, Rn. 42). Insoweit kommt der Bezugnahme von § 27 AufenthG auf Art. 6 Abs. 1 GG eine anspruchsbegrenzende Funktion zu (vgl. Tewocht in BeckOK AuslR, 25. Edition, 1.3.2020, § 27 AufenthG, Rn. 42, sowie zu § 17 AuslG a. F. BT-Drs. 11/6321, S. 60, und VGH Mannheim, Beschl. v. 21.8.2007, 11 S 995/07, Rn. 4, juris ["begrenzende Funktion"]). Bei der Auslegung und Anwendung von an das Institut der Ehe anknüpfenden gesetzlichen Regelungen sind namentlich die sich aus der Verfassung selbst ergebenden Strukturprinzipien zu berücksichtigen; hieran gemessen wurde die Nachzugsberechtigung von Ehegatten in Mehrehen unter Verweis auf das Art. 6 Abs. 1 GG immanente Prinzip der Einehe bereits vor Umsetzung der Richtlinie 2003/86/EG durch § 30 Abs. 4 AufenthG eingeschränkt (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 6.1.2009, 18 B 1914/08, Rn. 16, sowie VGH Mannheim, Beschl. v. 21.8.2007, 11 S 995/07, Rn. 4; offenlassend, ob die "polygame Ehe in jeder Hinsicht außerhalb des Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 1 GG steht oder nicht", BVerwG, Urt. v. 30.4.1985, 1 C 33/81, Rn. 20, alle juris).

40 Die in § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG geregelte Anspruchsberechtigung knüpft demgegenüber nicht an das von Art. 6 Abs. 1 GG garantierte Institut der Ehe an. Während im Recht des Familiennachzugs der Schutzgehalt von Art. 6 Abs. 1 GG sowohl den Grund als auch die Grenze der Anspruchsberechtigung vorgibt, folgt die statusrechtliche Gleichstellung von Schutzberechtigten und Ehegatten nicht aus dem grundgesetzlichen Schutz der ehelichen Lebensgemeinschaft. Sie fußt vielmehr auf den tatsächlichen Auswirkungen des solchen Lebensgemeinschaften immanenten Näheverhältnisses, das in Weiterführung der vorerwähnten richterrechtlichen Regelvermutung für eine typisierte Gefährdungsbeurteilung herangezogen wird. Damit wird der Umfang des zu gewährenden Familienflüchtlingsschutzes zwar durch die tatsächliche eheliche Verbundenheit bestimmt, nicht aber von der verfassungsrechtlichen Schutzwürdigkeit des Verwandtschaftsverhältnisses abhängig gemacht. Der Schutz der Ehe stellt sich mit anderen Worten als Reflex des individuellen Schutzes der dem Stammberechtigten nahestehenden Personen dar (vgl. ähnlich bereits VG Karlsruhe, Urt. v. 29.1.2018, A 3 K 6202/16, Rn. 16, juris, m.w.N.: "Maßgeblich war dabei jedoch nicht der Schutz des Familienverbundes als solcher, sondern der Schutz der einzelnen Familienangehörigen vor Repressalien des Verfolgerstaats […]. Ziel der Regelungen über das Familienasyl ist daher mitnichten der absolute Schutz des Familienverbands als solchen mittels Zuerkennung eines gleichwertigen flüchtlingsrechtlichen Schutzstatus, sondern dessen an eine Verfolgungsgemeinschaft bzw. ein gemeinsames Verfolgungsschicksal anknüpfender und damit relativer Schutz […].").

41 Die Berücksichtigung von Mehrehen nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG ist vorliegend auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie mit den Maßgaben der Richtlinie 2011/95/EU unvereinbar und deshalb unionsrechtswidrig wäre.

42 Insbesondere folgt dies nicht aus der näheren Bestimmung des Begriffs der "Familienangehörige[n]". Zwar grenzt der Wortlaut des Art. 2 Buchst. j, erster Spiegelstrich RL 2011/95/EU den Anwendungsbereich von Art. 23 RL 2011/95/EU auf Einehen ein, indem dort lediglich von "der Ehegatte" im Singular die Rede ist und in der Folge auf im nationalen Ausländerrecht vergleichbar behandelte "nicht verheiratete Paare" abgestellt wird. Art. 3 RL 2011/95/EU ermöglicht jedoch auch eine über diesen Wortlaut hinausgehende (überschießende) Umsetzung des Unionsrechts. Danach können die Mitgliedstaaten günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind. Dies bedeutet nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass eine günstigere Norm die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährden darf; insbesondere sind Normen verboten, die die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuerkennen sollen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen. Das gilt u.a. für Normen, die diese Eigenschaft oder diesen Status Personen zuerkennen, die unter einen der in Art. 12 RL 2011/95/EU genannten Ausschlussgründe fallen (EuGH, Urt. v. 4.10.2018, C-652/16, Rn. 71; vgl. ferner BVerwG, Beschl. v. 18.12.2019, 1 C 2/19, Rn. 17 ff., beide juris). Die so verstandenen Voraussetzungen von Art. 3 RL 2011/95/EU liegen vor. [...]