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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 14.07.2020 - XIII ZB 81/19 (Asylmagazin 12/2020, S. 442 f.) - asyl.net: M28913
https://www.asyl.net/rsdb/M28913
Leitsatz:

Zurückweisungshaft bei Kontrollen an Binnengrenzen unzulässig:

"a) § 15 Abs. 5 AufenthG [, wonach Zurückweisungshaft angeordnet werden kann,] ist auf Anordnungen von Haft zur Sicherung einer Zurückweisung oder Einreiseverweigerung nach § 15 Abs. 1 bis 4 AufenthG oder § 18 Abs. 2 AsylG nicht anwendbar, die im Rahmen von Kontrollen an Binnengrenzen stattfinden.

b) Die Voraussetzungen für die Anordnung von Haft zur Sicherung des Vollzugs einer Zurückweisung bestimmen sich deshalb, je nach dem, in welchen Staat der Betroffene zurückgewiesen werden soll, nach § 62 AufenthG oder Art. 28 Abs. 2 Dublin III-VO i.V.m. § 2 Abs. 14, § 62 Abs. 3a und 3b AufenthG."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Zurückweisungshaft, Zurückweisung, Fluchtgefahr, Binnengrenze, Überstellungshaft, Grenzkontrolle,
Normen: AsylG § 18 Abs. 2, AufenthG § 15 Abs. 5, VO 604/2013/EU Art. 28 Abs. 2, AufenthG § 62,
Auszüge:

[...]

aa) Der Senat hat schon entschieden, dass Haft zur Sicherung der Zurückweisung nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG auch bei einer Wiederaufnahme der Kontrollen an Binnengrenzen der Europäischen Union jedenfalls dann nicht in Betracht kommt, wenn der betroffene Drittstaatsangehörige nach Überqueren der deutschen Grenze im grenznahen Bereich gestellt und ihm dort die - tatsächlich bereits erfolgte - Einreise verweigert wird (Beschluss vom 12. Februar - XIII ZB 65/19, juris Rn. 8 f.). Ist ein Drittstaatsangehöriger in einen Mitgliedstaat eingereist, unterfällt er nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG (fortan: Rückführungsrichtlinie) dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie. Er ist daher den in der Rückführungsrichtlinie vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Abschiebung zu unterwerfen (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-444/17, NVwZ 2019, 947 Rn. 39 - Arib). Im Anwendungsbereich der Richtlinie ist die Anordnung von Haft nur unter den in Art. 15 Rückführungsrichtlinie i.V.m. § 62 AufenthG - hier nach §§ 2, 62 AufenthG aF - geregelten Voraussetzungen zulässig. Soll der Drittstaatsangehörige in einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden, in dem er einen Asylantrag gestellt hat, ist Sicherungshaft nur unter den Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 2 Dublin-Ill-VO i.V.m. § 2 Abs.14, § 62 Abs. 3a und 3b AufenthG bzw. nach den in Altfällen wie dem vorliegenden noch maßgeblichen § 2 Abs. 15 und 14 AufenthG aF anzuordnen.

bb) Nichts Anderes gilt, wenn der Drittstaatsangehörige - wie die Betroffene hier - an einer Grenzübergangstelle gestellt und ihm dort oder - unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AufenthG, die hier allerdings mangels Bestimmung zugelassener Grenzübergangstellen an der deutsch-österreichischen Grenze (Bundesregierung in BT-Drucks. 19/3049 S. 1 - Antwort auf Frage 1) nicht gegeben waren - hinter der Grenze in der Dienststelle der Grenzbehörde die Einreise verweigert wird. [...]

(2) Dem ihr zugrunde liegenden Verständnis des Unionsrechts ist durch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. März 2019 (C-444/17, NVwZ 2019, 947 - Arib) die Grundlage entzogen. Der Gerichtshof hat dort zwar nur den hier nicht gegebenen und von der Regelung in § 15 Abs. 5, § 13 Abs. 2 AufenthG auch nicht erfassten (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 65/19, juris Rn. 12) Fall entschieden, dass der Betroffene nicht an einer Grenzübergangsstelle oder unmittelbar an der Grenze, sondern im Hinterland hinter der Grenze gestellt wird. Die von dem Gerichtshof vorgenommene Auslegung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a Rückführungsrichtlinie und von Art. 32 Schengener Grenzkodex schließt jedoch eine Anwendung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a Rückführungsrichtlinie und damit die Anwendung der in § 15 Abs. 5 AufenthG bestimmten verkürzten Voraussetzungen für die Haft zur Sicherung einer Zurückweisung an einer Binnengrenze aus. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt die Befugnis der Mitgliedstaaten nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a Rückführungsrichtlinie, geringere Voraussetzungen für die Haft zur Sicherung der Zurückweisung an der Grenze vorzusehen, nur für ein Überschreiten von Außengrenzen der Europäischen Union. Art. 32 Schengener Grenzkodex beabsichtigt mit der Verweisung auf die Vorschriften des Titels II nach der Entscheidung des Gerichtshofs keine Erweiterung der in der Rückführungsrichtlinie vorgesehenen Ausnahmen (Urteil vom 19. März 2019 - C-444/17, NVwZ 2019, 947 - Arib, Rn. 51 f., 62 und 64 unter Verweis auf das Urteil vom 7. Juni 2016 - C-47/15, InfAuslR 2016, 269 - Affum, Rn. 74). Das schließt die Anwendung von § 15 Abs. 5 AufenthG auf die Haft zur Sicherung von Einreiseverweigerungen im Rahmen von Kontrollen an Binnengrenzen aus. [...]

c) Daraus folgt jedoch nicht, dass die Haftgerichte aufgrund der zugrunde zu legenden Entscheidung der beteiligten Behörde für den Erlass einer Zurückweisung nach § 18 Abs. 2 AsylG auch verpflichtet wären, die für die Anordnung von Haft zur Sicherung des Vollzugs einer solchen Entscheidung in § 15 Abs. 5 AufenthG bestimmten geringeren Voraussetzungen anzuwenden. Das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) ist auch bei der Anordnung von Sicherungshaft zu beachten (BGH, Beschluss vom 25. Juli 2014 - V ZB 137/14, FGPrax 2014, 230 Rn. 5). Aufgrund dieses Gebots sind die nationalen Gerichte verpflichtet, das innerstaatliche Recht soweit wie möglich in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auszulegen und, wenn das nicht möglich ist, notfalls jede Bestimmung unangewendet zu lassen, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde (vgl. EuGH, Urteil vom 27. Oktober 2009 - C-115/08, NVwZ 2010, 107 Rn. 138 - ČEZ a.s.). Deshalb hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass in einem Fall, in dem die Einreise bereits erfolgt ist, keine Zurückweisungshaft nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG angeordnet werden darf, auch wenn die beteiligte Behörde das vereinfachte Verfahren anwenden will (BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 65/19, juris Rn. 11). Für den hier gegebenen Fall, dass der Betroffene an einem - wenn auch nicht förmlich zugelassenen (vgl. § 13 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) - Grenzübergang gestellt und ihm dort oder hinter der Grenze in der Dienststelle der Grenzbehörde die Einreise verweigert wird, gilt nichts Anderes.

d) Die Voraussetzungen für die Anordnung von Haft zur Sicherung des Vollzugs einer Zurückweisung bestimmen sich deshalb, je nach dem, in welchen Staat der Betroffene zurückgewiesen werden soll, nach § 62 AufenthG oder nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 14, § 62 Abs. 3a und 3b AufenthG. [...]

bb) Die getroffenen Feststellungen ergeben aber nicht, dass der danach allein in Betracht kommende konkrete Anhaltspunkt für (erhebliche) Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF bei Anordnung der Haft weiterhin vorgelegen hat. [...]

(2) Ohne nähere Feststellungen durfte aber nicht davon ausgegangen werden, dass der Rückkehrwille der Betroffenen bei Anordnung der Verlängerung der bestehenden Haft zur Sicherung der Zurückweisung der Betroffenen nach Italien weiterhin fehlte. Anders als bei ihrer Befragung durch die beteiligte Behörde und bei ihrer persönlichen Anhörung durch das Amtsgericht in dem vorausgegangenen Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die Betroffene bei ihrer Anhörung durch das Amtsgericht im vorliegenden Verfahren erklärt, sie wolle so schnell wie möglich zurück nach Italien. Mit dieser Einlassung befassen sich weder das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht. Ohne nähere Nachfrage lässt sich die Einlassung der Betroffenen auch nicht als bloße Schutzbehauptung bewerten, zumal ihr zwischenzeitlich der Bescheid des Bundesamtes vom 27. Dezember 2018 zugestellt worden sein wird, durch den ihr Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde. [...]