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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 25.09.2020 - 2 BvR 854/20 (Asylmagazin 1-2/2021, S. 40 ff.) - asyl.net: M28920
https://www.asyl.net/rsdb/M28920
Leitsatz:

Verletzung rechtlichen Gehörs und effektiven Rechtsschutzes wegen Verstoßes gegen die Kenntnisnahme- und Erwägungspflicht:

1. Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist.

2. Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht den Vortrag der Beschwerdeführerin hinsichtlich der für ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK relevanten Unmöglichkeit der Existenzsicherung in Mauretanien nicht berücksichtigt. So hat das Gericht zwar auf den Bildungsweg und die Arbeitserfahrung der Beschwerdeführerin verwiesen, sich jedoch nicht mit ihrer spezifischen und von ihr ausdrücklich hervorgehobenen Situation als alleinstehende, einem "Sklavenstamm" angehörende Frau ohne familiäre Unterstützung auseinandergesetzt.

3. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Eröffnet das Prozessrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. An die Darlegung der Zulassungsgründe dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden.

4. Vorliegend hat das Oberverwaltungsgericht durch die Nichtzulassung der Berufung das Gebot effektiven Rechtschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt, da ein Zulassungsgrund in Form eines Verfahrensmangels nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO vorlag.

(Leitsätze der Redaktion)

 

Anmerkung:

Aufgrund der festgestellten Grundrechtsverstöße musste das Bundesverfassungsgericht nicht mehr darüber entscheiden, ob auch die Ablehnung eines durch die Beschwerdeführerin gestellten Beweisantrags in der 1. Instanz eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellt. Der Beweisantrag war auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Existenzsicherung in Mauretanien gerichtet und unter anderem deshalb abgelehnt worden, weil ein vorgelegtes Attest nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG entspricht. Das Bundesverfassungsgericht setzt sich mit dieser Frage nicht ausführlich auseinander, führt jedoch aus, dass es nicht der Auffassung des Oberverwaltungsgericht folgt, dass die Gesundheitssituation und Abstammung der Beschwerdeführerin hätten weiter substanziiert werden müssen (Rn. 42). Es deutet somit an, dass im Gegensatz zur Prüfung eines krankheitsbedingten Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG ein ärztliches Attest für die Prüfung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG auch dann miteinbezogen werden muss, wenn es nicht den Anforderungen an ein qualifiziertes ärztliches Attest nach § 60a Abs. 2c AufenthG entspricht.

 

Schlagwörter: Mauretanien, Sklaverei, Verfassungsbeschwerde, rechtliches Gehör, Frauen, alleinstehende Frauen, Abschiebungsverbot, Rechtsweggarantie, effektiver Rechtsschutz, Abschiebungsverbot, Attest,
Normen: GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 103 Abs. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, VwGO § 138 Nr. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

a) Das Verwaltungsgericht hat Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. [...]

Nach diesen Grundsätzen ist vorliegend auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags der Beschwerdeführerin zur Unmöglichkeit der Existenzsicherung in Mauretanien durch das Verwaltungsgericht zu schließen.

aa) Die Beschwerdeführerin hatte bereits in der Anhörung beim Bundesamt im August 2017 angegeben, dass sie einem "Sklavenstamm" angehöre und als Kind von ihrem Vater an eine Verwandte "verschenkt" worden sei, dass sie keine Schulbildung habe, dass sie in Mauretanien nicht gearbeitet habe, dass sie von ihrer Familie, konkret ihrem Vater, verstoßen worden sei und dass weiße Mauren Schwarze nicht akzeptierten. [...]

bb) Mit diesen wesentlichen und für die Frage des Bestehens eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK entscheidungserheblichen Ausführungen der Beschwerdeführerin hat sich das Verwaltungsgericht in seinem Urteil nicht auseinandergesetzt.

Es hat im Tatbestand zwar Bezug auf die Angabe der Beschwerdeführerin genommen, dass sie in Mauretanien auf sich allein gestellt wäre und aufgrund fehlender Papiere dort nicht arbeiten könne. Es hat im Zusammenhang mit § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK jedoch nicht geprüft, ob sie in ihrer spezifischen, von ihr ausdrücklich hervorgehobenen Situation als alleinstehende, einem "Sklavenstamm" angehörende Frau ohne familiäre oder sonstige Unterstützung im Falle einer Rückkehr nach Mauretanien in der Lage wäre, ihr Existenzminimum – außerhalb eines Daseins als Sklavin – zu sichern. [...]

Die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK war im vorliegenden Fall auch nicht etwa fernliegend. Aus den von der Beschwerdeführerin im Klageverfahren in Bezug genommenen Erkenntnismitteln ergibt sich vielmehr, dass Angehörige ehemaliger "Sklavenstämme", besonders Frauen, nach wie vor von extremer Armut und einem Ausschluss aus der Gesellschaft betroffen sind; staatliche Behörden und Entscheidungsträger stehen der Überwindung der bestehenden Schwierigkeiten im Weg. Bei der Volksgruppe der Peul, der die Beschwerdeführerin nach ihren eigenen, vom Verwaltungsgericht nicht in Zweifel gezogenen Angaben angehört, handelt es sich um einen solchen ehemaligen "Sklavenstamm" (vgl. dazu Institut für Afrika-Kunde, Auskunft an das Verwaltungsgericht Neustadt/Weinstraße vom 18. November 2003).

Das Verwaltungsgericht hätte im Übrigen – unabhängig von dem aus den genannten Gründen vorliegenden Gehörsverstoß – den Umstand, dass Mauretanien zu denjenigen Staaten gehört, in denen die Sklaverei auch in der Gegenwart noch ein wesentliches, das Leben größerer Bevölkerungsgruppen maßgeblich prägendes Problem darstellt, zum Anlass nehmen müssen, hierzu näher aufzuklären. [...]

aa) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>; stRspr). Die Vorschrift erfordert zwar keinen Instanzenzug (vgl. BVerfGE 49, 329 <343>; 83, 24 <31>; 87, 48 <61>; 92, 365 <410>; 96, 27 <39>; stRspr). Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 65, 76 <90>; 96, 27 <39>; stRspr). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen (vgl. BVerfGE 78, 88 <98 f.>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231 f.>). Sehen die prozessrechtlichen Vorschriften – wie hier § 78 AsylG – die Möglichkeit vor, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, so verbietet Art. 19 Abs. 4 GG eine Auslegung und Anwendung dieser Rechtsnormen, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert (vgl. BVerfGE 78, 88 <98 f.>; 96, 27 <39>; 104, 220 <231 f.>). An die Darlegung der Zulassungsgründe dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Mai 2019 - 2 BvR 657/19 - Rn. 33).

bb) Danach hat das Oberverwaltungsgericht Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt; es hat deutlich überhöhte Anforderungen an den Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) gestellt.

Die Beschwerdeführerin hat im Berufungszulassungsverfahren geltend gemacht, dass das Verwaltungsgericht ihren Vortrag zur Sicherung des Existenzminimums in Mauretanien unberücksichtigt gelassen habe; sie hat darauf hingewiesen, dass sie mit Schriftsatz vom 18. Juni 2019 insbesondere den "Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018" von Human Rights Watch, den "BTI 2018 Country Report Mauritania" der Bertelsmann-Stiftung und den Bericht "Esclavage en Mauritanie: échec de la feuille de route" der Gesellschaft für bedrohte Völker benannt und unter Hinweis auf diese Berichte dargelegt habe, dass und warum sie als Angehörige eines "Sklavenstammes", alleinstehende Frau, ohne Schulbildung, mit zu besorgender Erkrankung und ohne familiären Schutz nicht in der Lage sein werde, im Falle einer Rückkehr nach Mauretanien ihr Existenzminimum zu sichern. Wie aufgezeigt, hat das Verwaltungsgericht diesen wesentlichen und für die Frage eines Abschiebungsverbots entscheidungserheblichen Vortrag nicht hinreichend erwogen. Unter diesen Voraussetzungen war die Nichtzulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht nicht mehr vertretbar und hat den Zugang der Beschwerdeführerin zu effektivem Rechtsschutz übermäßig eingeschränkt. [...]

c) Ob die weiteren geltend gemachten Grundrechtsverstöße vorliegen, bedarf keiner Entscheidung.

Es spricht jedoch einiges dafür, dass das Verwaltungsgericht auch durch die Ablehnung des in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrags Art. 103 Abs. 1 GG verletzt hat und dass das Oberverwaltungsgericht im Hinblick auf die Ablehnung des Beweisantrags die Berufung hätte zulassen müssen (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG). Soweit das Oberverwaltungsgericht im angegriffenen Beschluss ausführt, dass die Beschwerdeführerin ihre Gesundheitssituation und ihre Abstammung weiter hätte substantiieren müssen, überzeugt dies nicht. [...]