VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 06.10.2020 - 1 K 25/20.TR - asyl.net: M29010
https://www.asyl.net/rsdb/M29010
Leitsatz:

Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wegen Einheitsjugendstrafe von mehr als einem Jahr:

1. Nach § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG kann ein Ausschlussgrund vom Flüchtlingsschutz vorliegen, wenn eine Person eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, weil sie wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Die Gefahr für die Allgemeinheit muss auch weiterhin bestehen, sodass es zusätzlich einer Prognoseentscheidung bedarf, ob auch zukünftig eine Wiederholungsgefahr besteht.

2. Es reicht aus, dass das Strafmaß durch die Bildung einer Einheitsjugendstrafe überschritten wird, wenn es sich bei den hierfür wesentlichen Straftaten um die in § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG aufgezählten Katalogtaten handelt. Es ist nicht erforderlich, dass die erforderliche Strafhöhe von mehr als einem Jahr durch die Einzelstrafe für eine einzige Tat erreicht wird (entgegen VG Freiburg, Beschluss vom 08 August 2019 - A 14 K 2915/19 -, juris).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Syrien, Straftat, Jugendstrafe, Widerruf, Abschiebungsverbot, Wiederholungsgefahr, Gefahr für die Allgemeinheit, Katalogtat, Einheitsjugendstrafe,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 8 S. 3
Auszüge:

[...]

2. Auch in materieller Hinsicht erweist sich der angefochtene Bescheid in Ziffer 1 als rechtmäßig. Gemäß § 73 Abs. 2b Satz 1 AsylG ist eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die - wie vorliegend - im Rahmen des internationalen Schutzes für Familienangehörige erteilt worden ist, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 Satz 1 AsylG vorliegen. Dies ist unter anderem der Fall, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Grundlage von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen hat. [...]

a. Eine entsprechende Anlassstraftat liegt im Falle des Klägers vor. Er wurde mit Urteil des Amtsgerichts ... - Jugendschöffengericht - vom ... 2018, bestätigt durch Urteil des Landgerichts ... - Große Jugendkammer - vom ... 2018 des Erschleichens von Leistungen, einer Körperverletzung, des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln sowie des Diebstahls in sieben tatmehrheitlichen Fällen schuldig gesprochen und unter Einbeziehung des Urteils vom ... 2017, in dem der Schuldspruch wegen einer vollendeten und einer versuchten gefährlichen Körperverletzung erfolgt war, zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt.

Dabei ist unerheblich, dass die für die Rechtsfolge des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG erforderliche Strafhöhe von mehr als einem Jahr nur durch die Bildung einer Einheitsjugendstrafe zustande gekommen ist, während keine der Einzelstrafen für sich genommen diese Strafhöhe gerechtfertigt hätte. Anders als bei § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG, bei dem die Strafschwelle von drei Jahren durch eine einzige Tat erreicht werden muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 17.12 -, juris Rn. 12), setzt § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG dies schon nach seinem Wortlaut nicht voraus. Vielmehr heißt es in der Vorschrift ausdrücklich, dass die Strafschwelle von einem Jahr durch eine oder mehrere Straftaten erreicht werden kann (vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 28. April 2020 - 6 A 10318/20.OVG -, juris Rn. 4-10). Auch aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 18/7537, S. 8-9), geht ausdrücklich hervor, dass nach dem Willen des Gesetzgebers aufgrund der Vorfälle in der Silvesternacht 2015/2016 neben dem bereits bestehenden Widerrufsgrund in § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG in eine weitere Ermächtigungsgrundlage geschaffen werden sollte, bei der bereits die Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer Straftaten als Anlasstat ausreichend ist, wenn es sich dabei um besonders schwerwiegende Straftaten handelt, weil sie sich gegen höchstpersönliche Rechtsgüter oder gegen Vollstreckungsbeamte richtet (vgl. VG Trier, Urteil vom 23. Januar 2020 - 2 K 4687/19.TR -, juris Rn. 18). Der anderslautenden Ansicht (vgl. etwa VG Freiburg [Breisgau], Beschluss vom 8. August 2019 - A 14 K 2915/19 -, juris), die unter Missachtung der systematischen Auslegung für die Anwendung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG eine Einzelfreiheitsstrafe fordert, die für sich genommen bereits die Strafschwelle von einem Jahr überschreitet, schließt sich die Kammer nicht an, da bei dieser Auslegung der Zusatz "oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten" in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG funktionslos wäre. [...]

Die Tatsache, dass zwei der insgesamt zwölf dem Urteil zugrunde liegenden Taten, namentlich das Erschleichen von Leistungen am ... 2017 und der Besitz von Betäubungsmitteln am ... 2018, keine Katalogtaten im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG sind, lässt die erforderliche Verknüpfung zwischen der Mindeststrafhöhe von einem Jahr und der Verwirklichung von Katalogtaten nicht entfallen. Grundsätzlich dürfte es in Anbetracht der restriktiv auszulegenden Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift zwar nicht ausreichend sein, wenn die verwirkte Strafe von mindestens einem Jahr nur zum Teil auf den in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG genannten Straftaten beruht und der zum Mindestmaß von einem Jahr fehlende Strafumfang nur durch Straftaten erreicht wird, die keine Katalogtaten im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG sind (vgl. VG Augsburg, Beschluss vom 26. März 2020 - Au 4 S 20.30367 -, juris Rn. 22). So liegt der Fall hier jedoch nicht. Die beiden Straftaten, die nicht unter § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG fallen, erweisen sich im Vergleich zu den ebenfalls abgeurteilten drei Körperverletzungs- und sieben Diebstahlsdelikten als offensichtlich untergeordnet und haben auf die Strafzumessung des Amtsgerichts ... - Jugendschöffengericht - ebenso wie auf diejenige des Landgerichts ... - Große Jugendkammer - erkennbar keine tragenden Auswirkungen gehabt. Dies lässt sich deutlich der Strafzumessung des Jugendschöffengerichts entnehmen, das insbesondere die hohe Anzahl der Diebstahlsdelikte, die zusätzlich gewerbsmäßig begangen worden sind, im Blick hatte und die Verhängung der Jugendstrafe (vgl. § 18 Abs. 2 JGG) insbesondere deshalb für erzieherisch notwendig erachtete, weil der Kläger sich bislang von gerichtlichen Maßnahmen nicht beeindruckt gezeigt hatte.

b. Der Kläger stellt zum nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit dar.

aa. Dabei führen allein die Verurteilung wegen einer oder mehrerer der in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG genannten Katalogstraftat einerseits und das Überschreiten des Mindeststrafmaßes von einem Jahr andererseits noch nicht dazu, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG absehen kann. Vielmehr muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls festgestellt werden, ob der Ausländer (weiterhin) eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Insoweit ist eine zukunftsgerichtete Prognoseentscheidung erforderlich (vgl. VG Würzburg, Urteil vom 4. Februar 2019 - W 8 K 18.32231 -, juris, Rn. 19), in deren Ergebnis eine Wiederholungsgefahr im Einzelfall feststellbar sein muss. [...]

bb. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Einzelfalls von einer weiterhin bestehenden Wiederholungsgefahr auszugehen. [...]