VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.11.2020 - 11 S 1465/19 (Asylmagazin 1-2/2021, S. 50) - asyl.net: M29125
https://www.asyl.net/rsdb/M29125
Leitsatz:

Ermessen beim Erlass eines ausländerrechtlichen Kontaktverbots:

"Zu den Anforderungen an die Ausübung des Auswahlermessens beim Erlass eines Kontaktverbots nach § 56 Abs. 4 AufenthG, mit dem der betroffene Ausländer verpflichtet wird, zu Personen einer bestimmten Gruppe keinen Kontakt aufzunehmen und mit ihnen nicht zu verkehren."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: terroristische Vereinigung, Kontaktverbot, Ausweisung, Ermessensfehler, Ermessen, freiheitliche demokratische Grundordnung,
Normen: AufenthG § 53 Abs. 1 und 3, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 56 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Selbst wenn man unterstellt, dass eine Ausweisung des Klägers nach § 53 Abs. 1 und § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zum - hier maßgeblichen - Zeitpunkt der Entscheidung des Senats rechtmäßig wäre und auch die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anwendung von § 56 Abs. 4 AufenthG (noch) vorlägen, wäre das gegen den Kläger verfügte Kontaktverbot rechtswidrig. Denn das Regierungspräsidium Stuttgart hat bei der Anwendung dieser Norm das ihm eröffnete Ermessen zum Nachteil des Klägers nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Die Entscheidung leidet an nach § 114 VwGO und § 40 LVwVfG relevanten Ermessensfehlern in Gestalt des Ermessensfehlgebrauchs. Das Regierungspräsidium hat bei der Ausübung seines Ermessens maßgebliche Gesichtspunkte unberücksichtigt gelassen. Die Behörde hat insbesondere nicht erkannt, dass bei der Anwendung von § 56 Abs. 4 AufenthG besondere Anforderungen an die inhaltliche Ausgestaltung eines Kontaktverbots zu beachten sind, wenn dieses auf die Mitglieder einer Gruppe bezogen werden soll.

Zur Ermessensausübung in Bezug auf das verfügte Kontaktverbot hat das Regierungspräsidium in der Begründung des angefochtenen Bescheids lediglich folgendes ausgeführt:

"Die mit der Meldepflicht, der Aufenthaltsbeschränkung und dem Kontaktverbot verbundenen Unannehmlichkeiten haben Sie durch Ihre Aktivitäten zugunsten der ausländischen terroristischen Vereinigung ... selbst zu verantworten. Sämtliche Maßnahmen sind dienlich, um eine weitere Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu minimieren. Mildere Mittel, um diesen Zweck zu erreichen, sind nicht ersichtlich, so dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Güterabwägung gewahrt ist."

Diese sehr knappe Begründung verdeutlicht, dass sich die Behörde zwar mit der Ausübung ihres Entschließungsermessens (Frage des "Ob" eines Kontaktverbots), jedoch allenfalls marginal mit der Ausübung ihres Auswahlermessens (Frage des "Wie") auseinandergesetzt hat. Insbesondere wird deutlich, dass die Behörde ihre Aufgabe nicht erkannt hat, das auf die Mitglieder einer Gruppe bezogene Kontaktverbot inhaltlich so auszugestalten, dass es für den betroffenen Ausländer, aber auch für Behörden und Gerichte möglich ist, klar zu erkennen, ob ein bestimmtes Verhalten des Ausländers zu einem Verstoß des gegen ihn verhängten - strafbewehrten (§ 95 Abs. 1 Nr. 6a AufenthG) - Kontaktverbots führt beziehungsweise geführt hat (vgl. hierzu etwa Mosbacher, in: Kluth/Hornung/Koch, Handbuch Zuwanderungsrecht, 3. Aufl. 2020, § 10 Rn. 22). Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich das gegen den Kläger verhängte Kontaktverbot dynamisch auf sämtliche Mitglieder der ... bezieht, unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt die Person ihre Mitgliedschaft begründet hat und ob dem Kläger deren Mitgliedschaft bekannt ist. Berücksichtigt man, dass es dem Kläger auch untersagt ist, mit Organen des Vereins Kontakt aufzunehmen, um sich über den jeweiligen Mitgliederstand zu informieren, so liegt es auf der Hand, dass dem Kläger mit dem Kontaktverbot in seiner konkreten Gestalt etwas abverlangt wird, was zu leisten er nicht in der Lage ist. Dies gilt unabhängig davon, ob er auf eine entsprechende Anfrage bei der ... überhaupt eine Auskunft erhielte. Dem wäre durch eine inhaltliche Ausgestaltung des Kontaktverbots Rechnung zu tragen gewesen. Hierzu käme beispielsweise die Begrenzung des Verbots auf Personen in Betracht, deren Mitgliedschaft dem Kläger bekannt ist. Auch räumliche Konkretisierungen wären denkbar, wie etwa ein Kontaktverbot mit Personen, die sich in den Räumen des Vereins aufhalten oder an Veranstaltungen des Vereins teilnehmen.

Ferner geht aus der Begründung des angefochtenen Bescheids klar hervor, dass sich die Behörde nur unzureichend mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob das in der vorliegenden Form uneingeschränkte Kontaktverbot dergestalt mit dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip in Einklang steht, als auch die Angemessenheit der Maßnahme (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) zu wahren ist (vgl. hierzu auch Bauer, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 56 AufenthG Rn. 17; Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 01.10.2020, § 56 AufenthG Rn. 70). Der Hinweis der Behörde, dass der "Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Güterabwägung gewahrt" sei, unterstreicht, dass sie sich darauf beschränkt hat, die im Zuge der Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen für die Ausweisung des Klägers angestellten Überlegungen unmittelbar auf die Ermessensausübung zum Kontaktverbot zu übertragen. Diese Vorgehensweise lässt jedoch unberücksichtigt, dass es sich bei der Ausweisung eines Ausländers und bei der Verhängung eines Kontaktverbots um verschiedenartige Eingriffe in Grundrechte des Ausländers (und gegebenenfalls auch seiner Familie) handelt, die nicht nur unterschiedliche tatbestandliche Voraussetzungen der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage haben, sondern auch jeweils eigenständige, auf die jeweilige Maßnahme bezogene Prüfungen zu deren Verhältnismäßigkeit erfordern. [...]