VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 08.12.2020 - 13 K 146.17 A (Asylmagazin 3/2021, S. 96 ff.) - asyl.net: M29327
https://www.asyl.net/rsdb/M29327
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung wegen Militärdienstentziehung in Syrien:

1. Die Verfolgungshandlung nach § 3 Abs. 2 Nr. 5 AsylG (Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung eines Militärdienstes, der völkerrechtswidrige Handlungen umfasst) knüpft an den vom Betroffenen individuell geforderten Militärdienst an. Es reicht nicht aus, dass syrische Streitkräfte grundsätzlich Kriegsverbrechen begehen.

2. Da Betroffene, die ihren künftigen Einsatzort oder ihre Einheit nicht kennen in Beweisnot geraten, gewährt der EuGH in einem Konflikt, in dem Kriegsverbrechen begangen werden, eine Beweiserleichterung in Form einer widerlegbaren Tatsachenvermutung. Damit diese greift, müssen zwei Voraussetzungen vorliegen:

a. Ein allgemeiner Bürgerkrieg, der durch wiederholte und systematische Begehung von Kriegsverbrechen gekennzeichnet ist und

b. die Begehung der Kriegsverbrechen durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen.

Beides muss vom Tatsachengericht unabhängig voneinander festgestellt werden. Der EuGH hat sich nicht das Verständnis des vorlegenden VG Hannover zu eigen gemacht, wonach es ausreicht, die wiederholte oder systematische Begehung von Kriegsverbrechen durch die Armee einerseits und den Einsatz von Wehrpflichtigen in der Armee andererseits festzustellen (unter Bezug auf VG Hannover, Beschluss vom 07.03.2019 - 4 A 3526/17 - asyl.net: M27109).

3. In Syrien liegt zwar derzeit ein Bürgerkrieg vor, in dem durch die syrische Armee Kriegsverbrechen vor allem in Form kriegerischer Angriffe einschließlich des Einsatzes chemischer Kampfstoffe gegen Zivilpersonen begangen werden.

4. Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass eine wiederholte und systematische Begehung von Kriegsverbrechen unter Einsatz von Wehrpflichtigen gegeben ist. Hierzu fehlt es an Erkenntnissen. Zudem widerspricht es der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Kriegsverbrecher sich nicht eines eingeschworenen Kreises Gleichgesinnter bedienen, sondern als politisch unzuverlässig einzustufenden Wehrpflichtigen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf und in Auslegung von EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 EZ gg. Deutschland (Asylmagazin 12/2020, S. 424 ff.) - asyl.net: M29016)

 

Schlagwörter: Syrien, Wehrdienstentziehung, Wehrdienstverweigerung, Strafverfolgung wegen Verweigerung von völkerrechtswidrigem Militärdienst, Militärdienst, Kriegsverbrechen, Einsatzort, Kausalität, Verfolgungshandlung, Verfolgungsgrund, Upgrade-Klage,
Normen: RL 2011/95 Art. 9 Abs. 2 Bst. e, RL 2011/95 Art. 10, RL 2011/95 Art. 12, AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3b,
Auszüge:

[...]

15 Die Verpflichtungsklage ist unbegründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Februar 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Dem Kläger steht – über den ihm zuerkannten Status als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 4 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) hinaus – nach der für die Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) der allein geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gemäß § 3 Abs. 1 AsylG nicht zu. [...]

21 [...] Die begründete Furcht vor Verfolgung besteht auch nicht im Hinblick auf die vom Kläger verwirklichte Wehrdienstentziehung (b) und auch nicht im Hinblick darauf, dass ihm Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt drohen würde, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfasst, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (c). [...]

29 (b) Die begründete Furcht vor Verfolgung besteht auch nicht im Hinblick auf die vom Kläger verwirklichte Wehrdienstentziehung. [...]

31 Dem Kläger droht wegen der Wehrdienstentziehung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine harte Bestrafung und eine Behandlung, die die Qualität von Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG erreicht (so auch OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16. A – juris, Rn. 46). Bei der Rückkehr wird er als Wehrdienstentzieher mit großer Wahrscheinlichkeit identifiziert und verhaftet. In der Haft kann er gefoltert werden. Möglich ist auch, dass er bei gleich eingezogen wird und nach einer kurzen Ausbildung an die Front geschickt wird. Gemäß Art. 99 Abs. 1 Legislative Decree No. 61/1950 vom 27. Februar 1950 wird Wehrdienstentziehung gemäß der englischsprachigen Übersetzung des UNHCR in Kriegszeiten mit einer Haftstrafe bis zu 5 Jahren bestraft. Nach Verbüßung der Strafe muss der Wehrdienstentzieher weiterhin den regulären Militärdienst ableisten (Abs. 2 der Vorschrift). Besonders hart ist die Strafdrohung, wenn der Betroffene bereits Soldat ist und desertiert. Dann drohen 5 Jahre Haft, in Kriegszeiten 10 Jahre (Art. 100). Wer angesichts des Feindes desertiert oder gar zum Feind überläuft, wird mit lebenslanger Haft bzw. mit der Todesstrafe bedroht (Art. 102). Eine Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung besteht nicht (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Düsseldorf vom 2. Januar 2017, Seite 2f; UNHCR, Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Syrien, Februar 2017, bei Fußnote 107). Bei der Haft kann es zu Folter und extralegalen Hinrichtungen kommen. Faktisch besteht aber auch die Möglichkeit sofortiger Einberufung und Verbringung an die Front, gegebenenfalls nach nur kurzem Training (Finish Immigration Service, Report vom 23. August 2016, Seite 12; Danish Refugee Council, Update on Military Service von September 2015, Seite 18; ders., August 2017, Seite 13f; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung vom 28. März 2015, Seite 4; dieselbe, Syrien: Rückkehr, vom 21. März 2017, Seite 8).

32 Der Bedarf an Soldaten zur Auffüllung der Lücken und der Anreiz für Wehrpflichtige, sich wegen der Gefährlichkeit des Kriegseinsatzes dem Wehrdienst zu entziehen, lassen es aus Sicht des syrischen Staates geboten erscheinen, gegen Wehrdienstentziehung aus Abschreckungsgründen harsch vorzugehen (OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16. A – juris, Rn. 46). [...]

33 Allerdings stellen die an eine Wehrdienstentziehung oder gar Desertion geknüpften Sanktionen, selbst wenn sie die Qualität von Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG erreichen und wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (ständige Rechtsprechung, BVerwG, Beschluss vom 2. Juni 2017 – 1 B 108.17 – juris, Rn. 10 m.w.N.; OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16. A – juris, Rn. 55; zum Ganzen auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. November 2017 – OVG 3 B 12.17 – Seite 9 des amtlichen Abdrucks). Kann dies nicht festgestellt werden, verbleibt es bei dem Kläger bereits zuerkannten subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.

34 Es bestehen keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme, dass die geschilderte menschenrechtswidrige Behandlung von zurückkehrenden Wehrdienstentziehern auch tatsächlich an Verfolgungsgründe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpft, also an Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, und sei es auch nur in Form einer unberechtigten Zuschreibung dieser Merkmale durch den syrischen Staat (§ 3b Abs. 2 AsylG). Soweit der UNHCR, Februar 2017, auf Seite 23 und in der Auskunft an den VGH Kassel vom 30. Mai 2017, Seite 3, annimmt, die Regierung betrachte Wehrdienstentziehung "wahrscheinlich" nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen terroristische Bedrohung zu schützen, werden tatsächliche Umstände für diese Annahme nicht angegeben. Der in dem Erkenntnismittel folgende Hinweis auf drohende Verhaftung und Misshandlung einschließlich Folter führt hinsichtlich der Frage einer politischen Gerichtetheit der Maßnahme im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG nicht weiter (OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16. A – juris, Rn. 58). Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die drakonischen Strafen einschließlich der Folter letztlich der Erregung von Angst und Schrecken bei dem betroffenen Teil der Bevölkerung – wehrdienstpflichtigen Männern – dienen, um sie so von einer Wehrdienstentziehung oder gar Desertion abzuhalten. Dies dient der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der syrischen Streitkräfte (VG Gelsenkirchen, Urteil vom 14. Dezember 2017 – 17a K 5932/16. A –, Rn. 106f mit weiterem Nachweis). Bei diesem Zweck (nicht dem Mittel) handelt es sich um den legitimen und auch in Deutschland durch entsprechende Strafandrohungen verfolgten Zweck der Aufrechterhaltung der Wehrfähigkeit des Staates (OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16. A – juris, Rn. 60 ff mit eingehender Erläuterung der deutschen Gesetzeslage). [...]

35 Die Gegenansicht leitete die politische Gerichtetheit der befürchteten menschenrechtswidrigen Behandlung zurückkehrender syrischer Männer, die sich dem Wehrdienst entzogen haben, generell aus der (an sich zutreffenden) Charakterisierung des syrischen Staates als ein menschenverachtendes, diktatorisches Regime ab. Bei diesem sei die zu erwartende Bestrafung des Wehrdienstentzuges immer auch auf eine vermutete regimefeindliche Gesinnung gerichtet. Nach Auffassung der erkennenden Kammer ist es jedoch insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich wie dargelegt Wehrpflichtige in Syrien im hohen Maße dem gefährlichen Kriegseinsatz entziehen und dass die Furcht vor einem Kriegseinsatz als Motivation für eine Wehrdienstentziehung kulturübergreifend ein reales Motiv wehrdienstpflichtiger Männer ist (OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16. A – juris, Rn. 70) und bei insgesamt 5, 6 Millionen Flüchtlingen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. November 2019, Seite 5) wenig naheliegend, dass das totalitäre syrische Regime in jedem syrischen Deserteur ein Individuum sieht, dessen oppositionelle politische Überzeugung verfolgt werden müsse, und nicht nur jemanden, der Angst um sein Leben hat und sich deshalb dem Wehrdienst entzieht.

36 (c) Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist auch nicht wegen einer Verfolgungshandlung nach § 3 Abs. 2 Nr. 5 AsylG gerechtfertigt. Danach kann Verfolgungshandlung sein die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Die letztgenannte Vorschrift schließt eine Person von der Flüchtlingsanerkennung aus, wenn sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat (Nr. 1), vor ihrer Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn damit vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Diese Vorschriften beruhen unionsrechtlich auf Art. 9 Abs. 2 Buchstabe e, Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. EU vom 20. Dezember 2011; Vorgängervorschrift Art. 9 Abs. 2 Buchstabe e, Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004). Mit dieser Vorschrift wurde nicht die Wehrdienstverweigerung als solche zum flüchtlingsrelevanten Tatbestand erhoben, sondern nur der Zwang zur Teilnahme an einer völkerrechtswidrigen Militäraktion (OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16. A – juris, Rn. 85 mit Hinweis auf die Gesetzesgeschichte).

37 In tatbestandlicher Hinsicht ist der Kreis der erfassten Wehrdienstverweigerer nicht auf bestimmte Militärangehörige etwa nach Dienstgrad oder konkret ausgeübter Tätigkeit beschränkt, sondern umfasst alle Militärangehörigen einschließlich des logistischen und des Unterstützungspersonals, auch in anderen Einheiten (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2015 – C-472.13 -, juris, Rn. 33, 37; OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16.A – juris, Rn. 88). Eine mittelbare Beteiligung reicht aus, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass der Kläger durch die Ausübung seiner Funktion eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Kriegsverbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde. Der Kläger muss sich also in einer durch hinreichende logistische, zeitliche oder räumliche Nähe geprägten Weise an solchen Handlung beteiligen müssen. Dabei kann, da es um die Verweigerung künftiger Handlungen geht, nicht gefordert werden, dass feststehen muss, dass die Einheit, der der Kläger angehört oder angehören wird, bereits  Kriegsverbrechen begangen hat; es genügt, dass Kriegsverbrechen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2015 – C - 472.13 -, juris, Rn. 38f und Rn. 46, 3. Spiegelstrich; OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16.A – juris, Rn. 90). Die Begehung von Kriegsverbrechen unter mittelbarer oder unmittelbarer Beteiligung des Klägers muss bei Berücksichtigung der mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen sowie der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers plausibel erscheinen (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2015 – C - 472.13 -, juris, Rn. 46, 4. Spiegelstrich). Die Ableistung des Militärdienstes muss den Betroffenen zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich veranlassen Kriegsverbrechen zu begehen (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 Rn. 34). Alleine der Umstand, dass die syrischen Streitkräfte Handlungen bzw. Verbrechen begehen, die unter die Ausschlussklausel nach § 3 Abs. 2 AsylG fallen, genügt hingegen nicht. Denn das Gesetz fordert in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, dass der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen dieser Art umfassen muss, es knüpft also an den vom Antragsteller geforderten Militärdienst an (OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023.16. A –, Rn. 90).

38 (1) Dies stellt den Flüchtling vor Nachweisprobleme, wenn er seinen künftigen Einsatzort oder seine Einheit – wie der Kläger – nicht kennt. Um diese für den in Rede stehenden Tatbestand typische Beweisschwierigkeit aufzufangen sieht der EuGH den Tatbestand des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG gleichlautenden Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU für einen Wehrpflichtigen, der seinen Militärdienst in einem Konflikt verweigert, schon dann als erfüllt an, wenn die Ableistung des Militärdiensts in einem Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs erfolgt, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist (Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 Rn. 38). Der EuGH gewährt damit eine Beweiserleichterung in Form einer widerleglichen Tatsachenvermutung (vgl. dazu Dawin, in: Schoch/ Schneider, VwGO, Stand Juli 2020 § 108 Rn. 108). Damit diese eingreift, müssen folgende Voraussetzungen vorliegen: Allgemeiner Bürgerkrieg, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Kriegsverbrechen gekennzeichnet ist (aa) und Begehung der Kriegsverbrechen durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen (bb). Lässt sich dies zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) feststellen, ist anzunehmen, dass die Ableistung des Militärdienstes den Betroffenen zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich veranlasst Kriegsverbrechen zu begehen, d.h., es ist anzunehmen, dass die Tatbestandsvoraussetzung "Militärdienst in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen", erfüllt ist.

39 Die Voraussetzung aa der widerleglichen Vermutung lässt sich zwar feststellen, nicht aber die Begehung dieser Kriegsverbrechen durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen (bb).

40 (aa) Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Syrische Arabische Armee im syrischen Bürgerkrieg Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG begeht, insbesondere Kriegsverbrechen in Form kriegerischer Angriffe einschließlich des Einsatzes chemischer Kampfstoffe gegen Zivilpersonen (OVG Münster, Urteil vom 4. Mai 2017 – 14 A 2023/16.A – juris, Rn. 92f mit weiteren Nachweis, auch zum Begriff des Kriegsverbrechens). Es gibt zahlreiche Berichte über willkürliche und direkte Angriff auf Zivilisten, Belagerungen und Verwehrung des Zugangs von humanitärer Hilfe sowie Angriffe auf medizinische Einrichtungen und Mitarbeiter (UNHCR, November 2015, Seite 9, UNHCR, Februar 2017, Seite 22; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Syrien vom 5. Januar 2017, Seite 28). Das syrische Regime nutzt chemische Waffen sowie Fassbomben und versucht mit Hilfe von "zweiten Luftschlägen" die Bevölkerung und den Gegner zu vernichten und zu demoralisieren (Government UK, Report vom 8. Februar 2017, Seite 1). Bei "zweiten Luftschlägen" wird nach einem ersten Bombenangriff versucht durch einen zweiten Bombenangriff Hilfsorganisationen und beginnende Rettungsmaßnahmen zu treffen. Es ist allgemeinkundig, dass in Syrien Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen bombardiert werden. Diese Verbrechen setzt die syrische Regierung bei der derzeitigen Rückeroberung der Provinz Idlib fort (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. November 2019, Seite 13f).

41 (bb) Die zweite Voraussetzung für das Eingreifen der vom EuGH entwickelten Beweiserleichterung – Begehung der Kriegsverbrechen durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen – kann jedoch nicht festgestellt werden. Da wie ausgeführt die Ableistung des Militärdienstes den Betroffenen zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich veranlassen muss, Kriegsverbrechen zu begehen (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 Rn. 34), muss vom Tatsachengericht festgestellt werden, dass die Begehung der Kriegsverbrechen unter Einsatz von Wehrpflichtigen wiederholt und systematisch (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 Rn. 38) erfolgt. Bei einem anderen Verständnis der vom EuGH aufgestellten Beweiserleichterung würde der vermutete, den gesetzlichen Tatbestand ausfüllende Sachverhalt – zwangsläufige oder zumindest sehr wahrscheinliche Veranlassung zur Begehung von Kriegsverbrechen – erweitert. Es mag sein, dass der Vorlagefrage des VG Hannover (VG Hannover, Beschluss vom 7. März 2019 – 4 A 3526/17 –) genau dieses Verständnis zugrunde gelegen hat, dass es nämlich ausreicht, die wiederholte oder systematische Begehung von Kriegsverbrechen durch die Armee einerseits und andererseits den Einsatz von Wehrpflichtigen in der Armee (als solchen) festzustellen. Der EuGH hat sich jedoch dieses Verständnis offenkundig nicht zu Eigen gemacht, wofür die Ausführungen in Rn. 37 der Entscheidung sprechen, wonach Voraussetzung für die zu prüfende Veranlassung des Wehrpflichtigen, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung der betreffenden Verbrechen teilzunehmen, ist, dass die wiederholte und systematische Begehung von Kriegsverbrechen durch die syrische Armee einschließlich Einheiten, die aus Wehrpflichtigen bestehen, erfolgt.

42 Für eine wiederholte und systematische Begehung der Kriegsverbrechen unter Einsatz von Wehrpflichtigen geben die vorhandenen Auskünfte jedoch nichts her. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass auch bloße Vorbereitungshandlungen nach der zitierten Rechtsprechung ausreichen, wie beispielsweise das Betanken auf einem Luftwaffenstützpunkt, auf dem mit Fassbomben oder Chemiewaffen beladenen Kampfflugzeuge starten. Es widerspricht schon der Lebenserfahrung, dass Kriegsverbrecher zur wiederholten und systematischen Begehung von Kriegsverbrechen sich nicht eines eingeschworenen Kreises Gleichgesinnter bedienen, sondern Wehrpflichtiger, die zum Dienst mehr oder weniger gezwungen sind worden sind und deshalb politisch oder "kameradschaftlich" als nicht verlässlich einzuschätzen sind. Auch dürfte mittlerweile jedem Offizier (ohne deren Mitwirkung Kriegsverbrechen nicht wiederholt und systematisch begangen werden können) bewusst sein, dass er im Fall eines Regimewechsels oder bei einer Auslandsreise einer Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof ausgesetzt sein kann (am 26. November 1968 haben die Vereinten Nationen in einer Resolution der Generalversammlung beschlossen, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verjähren). Gerade im Falle Assads ist es nicht sicher, ob sich das Regime auf Dauer in Syrien halten können wird. Das wissen auch die normalen Soldaten und insbesondere ihre Offiziere. Vor diesem Hintergrund wäre es geradezu selbstmörderisch Kriegsverbrechen unter systematischer Beteiligung von Wehrdienstleistenden zu begehen. Vielmehr scheint die in letzter Zeit verstärkte Rekrutierung von Wehrpflichtigen dem Regime dazu zu dienen, eine demographisch loyale und gehorsame Bevölkerung zu etablieren (UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Syria, Stand: 7. Mai 2020, S. 10, Fn. 36).

43 Die vorliegenden, sich intensiv mit dem syrischen Militär befassenden Auskünfte ermöglichen Feststellungen zu dieser Frage nicht. Auch der EuGH hat dazu nichts festgestellt, sondern vielmehr wiederholt betont, dass dies festzustellen Aufgabe der nationalen Behörden und Gerichte sei. Der EuGH hat insoweit – prozessual zwingend - die in Frage 3, erster Absatz enthaltene Feststellung des vorlegenden VG Hannover, dass das "Militär wiederholt und systematisch solche Verbrechen unter Einsatz von Wehrpflichtigen begeh(t)" (VG Hannover, Beschluss vom 7. März 2019 – 4 A 3526/17 –) lediglich seiner Auslegung der einschlägigen Richtlinie zugrunde gelegt (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 – C-238/19 - Rn. 37).

44 Im Ergebnis lässt sich damit das Vorliegen der Vermutungsbasis für die vom EuGH entwickelte widerlegliche Tatsachenvermutung nicht feststellen. [...]