BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 17.12.2020 - 1 C 30.19 (Asylmagazin 4/2021, S. 135 ff.) - asyl.net: M29408
https://www.asyl.net/rsdb/M29408
Leitsatz:

Zu Ausnahmen vom Regelausschluss des Nachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten bei Eheschließung nach Verlassen des Herkunftslandes:

"1. Eine Ehe ist nicht im Sinne des Regelausschlussgrundes des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG "vor der Flucht" geschlossen, wenn sie erst nach Verlassen des Herkunftslandes eingegangen wurde.

2. Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG vermittelt subsidiär Schutzberechtigten und ihren Familienangehörigen keinen unbedingten, unmittelbaren grundrechtlichen Anspruch auf eine sofortige Familienzusammenführung im Bundesgebiet. Ob eine Ehe vor oder nach dem Verlassen des Herkunftslandes geschlossen worden ist, ist dem Grunde nach ein taugliches Differenzierungskriterium für die Ausgestaltung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. Die Regelungen für den Familiennachzug müssen das grundrechtlich geschützte Interesse der Angehörigen der Kernfamilie des subsidiär Schutzberechtigten an der (Wieder-)Herstellung ihrer familiären Lebensgemeinschaft in einen angemessenen Ausgleich zu entgegenstehenden öffentlichen Interessen bringen. Differenzierungen in Bezug auf die Voraussetzungen für den Familiennachzug zu Flüchtlingen und zu solchen subsidiär Schutzberechtigten, deren Ehe noch vor der Flucht geschlossen worden ist, müssen auch nach Art und Gewicht gerechtfertigt sein (Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG).

3. Eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG kann nicht nur aus Umständen hergeleitet werden, die ihren Grund unmittelbar in der allgemeinen Lage im Herkunftsland des subsidiär Schutzberechtigten haben. Ein Ausnahmefall liegt im Vorfeld eines unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG folgenden Familiennachzugsanspruchs auch dann vor, wenn die für den Ausschluss von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36a Abs. 1 Satz 1 oder 2 AufenthG herangezogenen Gründe einen Ausschluss nach Art oder Reichweite nicht (mehr) rechtfertigen.

4. Die Bundesrepublik Deutschland kann für den Fall der Nichtberücksichtigung von Angehörigen der Kernfamilie eines subsidiär Schutzberechtigten bei der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG verpflichtet sein, diesen ein Visum zum Zweck ihrer Aufnahme aus dem Ausland nach Maßgabe des § 36a Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 22 Satz 1 Alt. 2 AufenthG zu erteilen, wenn besondere Umstände des Einzelfalles eine Fortdauer der räumlichen Trennung mit Art.6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG nicht länger vereinbar erscheinen lassen (Fortführung von BVerwG, Beschluss vom 4. Juli 2019 - 1 B 26.19 [asyl.net: M27529] - Buchholz 402.242 § 36 AufenthG Nr. 6 Rn. 13).

5. Ehegatten sind keine "sonstigen Familienangehörigen" im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, da der Ehegattennachzug in speziellen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes abschließend geregelt ist."

(Amtliche Leitsätze; Aufhebung der Entscheidung der erstinstanzlich für Nachzugsverfahren zu subsidiär Schutzberechtigten allein zuständigen 38. Kammer des VG Berlin: Urteil vom 28.06.2019 - 38 K 43.19 V - asyl.net: M27718)  

Anmerkung:

Schlagwörter: Familienzusammenführung, subsidiärer Schutz, Ehegattennachzug, Schutz von Ehe und Familie, Zeitpunkt der Eheschließung, Gleichheitsgrundsatz, Familiennachzug, Eheschließung, Flucht, Beurteilungszeitpunkt, Familienzusammenführungsrichtlinie, Familienzusammenführung, außergewöhnliche Härte, Härtefall, Regelversagungsgrund, atypischer Ausnahmefall, Ausnahmefall, Sprungrevision,
Normen: GG Art. 3 Abs. 1, GG Art. 6, EMRK Art. 8 Abs. 1, EMRK Art. 14, RL 2003/86/EG Art. 3 Abs. 2, RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1, AufenthG § 6 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 22 S. 1 Alt. 2, AufenhG § 27, AufenthG § 29, AufenthG § 30, AufenthG § 36 Abs. 2 S.1, AufenthG § 36a Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 36a Abs. 1 S. 1 Alt. 1, AufenthG § 36a Abs. 1 S. 1 Alt. 2, AufenthG § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 2, RL 2003/86/EG Art. 9 Abs. 1, RL 2003/86/EG Art. 3 Abs. 2 Bst. c, AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

13 1.1 Ohne Verstoß gegen § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass eine Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde, wenn sie erst nach Verlassen des Herkunftslandes eingegangen wurde (a). Dieses Normverständnis steht mit höherrangigem Recht im Einklang (b).

14 a) Auf ein entsprechendes Verständnis des Regelausschlussgrundes weisen vor allem der Wortlaut (aa) und die Entstehungsgeschichte (bb) des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG.

15 aa) In grammatischer Hinsicht knüpft der Begriff "Flucht" an das Verb "flüchten" an, dessen Bedeutung mit "plötzlich und sehr eilig fliehen", "sich einer drohenden Gefahr durch Flucht zu entziehen versuchen" oder "sich durch Flucht irgendwohin in Sicherheit bringen" umschrieben wird. Er beschreibt keinen Zeitpunkt, sondern einen Zeitabschnitt. Die Flucht beginnt an dem Ort, an dem die Gefahr droht, und endet an einem Ort, an dem die fluchtauslösende Gefahr nicht mehr droht. Die Präposition "vor" bezeichnet in ihrer temporalen Bedeutung einen Zeitpunkt, der einem anderen Zeitpunkt oder einem Vorgang vorausgeht. Sie ist insoweit von den Präpositionen "während" oder "nach" abzugrenzen. Daran gemessen wurde eine Ehe im Sinne des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG vor der Flucht geschlossen, wenn sie vor dem Zeitpunkt des Aufbruchs von dem Ort geschlossen wurde, an dem die die Flucht veranlassende Gefahr drohte. Der Ort, an dem die Gefahr drohte, ist bei landesweiten Gefahren in aller Regel das Herkunftsland der Flüchtenden. [...]

20 b) Diese Differenzierung zwischen Ehen, die vor, und solchen, die nach dem Verlassen des Herkunftslandes geschlossen wurden, knüpft mit der Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung dem Grunde nach an ein taugliches Differenzierungskriterium für die Ausgestaltung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten an; insoweit steht die Norm mit höherrangigem Recht, insbesondere mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG (aa) und Art. 3 Abs. 1 GG (bb) sowie mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rückwirkungsverbot jedenfalls unter Berücksichtigung der von dem Regelausschlussgrund belassenen Möglichkeit einer Ausnahme (cc) im Einklang. Die vorstehenden Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze sind völkerrechtsfreundlich auszulegen. Hierbei sind auch die Europäische Menschenrechtskonvention und sonstige völkerrechtliche Vertragswerke wie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl. 1973 II S. 1533) (IPbpR) und das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 verabschiedete Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention - KRK) (BGBl. 1992 II S. 121, 990) heranzuziehen (BVerfG, Urteil vom 12. Juni 2018 - 2 BvR 1738/12, 1395/13, 1068/14 und 646/15 - BVerfGE 148, 296 Rn. 126 ff.; Kammerbeschluss vom 22. Januar 2018 - 1 BvR 2616/17 - FamRZ 2018, 593 Rn. 7; Beschluss vom 29. Januar 2019 - 2 BvC 62/14 - BVerfGE 151, 1 Rn. 61 f.). Diese Pakte und die Kinderrechtskonvention gewähren keine selbständigen, hier über die grundrechtlich geschützten Positionen hinausgehenden Nachzugsansprüche.

21 aa) § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG in der vorstehenden Auslegung begegnet im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG und des Art. 8 EMRK keinen durchgreifenden Bedenken, zumal dem Grundrechtsschutz von Ehe und Familie erforderlichenfalls durch die Annahme eines Ausnahmefalles Rechnung getragen werden kann (dazu s. unten unter 1.2). [...]

23 Die dem Familiennachzugsneuregelungsgesetz zugrunde liegende Annahme des Gesetzgebers, zur Verhinderung einer Überforderung der Aufnahme- und Integrationssysteme von Staat und Gesellschaft (BT-Drs. 18/7538 S. 1 und BT-Drs. 19/2438 S. 1) bedürfe es einer Begrenzung des Ehegattennachzugs, ist ein im Ansatz legitimer Grund und grundsätzlich vertretbar. Sie stellt sich als Einschätzung künftigen Geschehens dar, die dem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zuzurechnen ist. Der Regelausschluss des Nachzugs derjenigen Ehegatten, deren Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde, ist geeignet, dieses legitime Ziel zu erreichen, auch wenn er hier lediglich der eigentlichen numerischen Beschränkung auf monatlich 1 000 Visa (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) vorgelagert ist und lediglich den Kreis derjenigen verkleinert, unter denen bei Vorliegen humanitärer Gründe gegebenenfalls eine Auswahlentscheidung zu treffen ist. Es kann bei einer dem Gesetzgeber zuzubilligenden typisierenden Betrachtung, welchen "Nachfluchtehen" er auch wegen anzunehmender Zusammenführungsalternativen eine geringere Schutzwürdigkeit zumisst, auch nicht festgestellt werden, dass für die Vorauswahl andere Mittel zur Verfügung gestanden hätten oder verfügbar geworden wären, welches es erlaubten, das Ziel der Regelung ohne beachtliche Nachteile für die Aufnahme- und Integrationskapazität in einer Ehe und Familie der Betroffenen weniger belastenden Art und Weise zu erreichen. Das Kriterium der Eheschließung nach Beginn der Flucht stellt sich dem Grunde nach angesichts der Rückausnahme in Ausnahmefällen zudem nicht als unangemessen dar. Insbesondere ist die Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung nicht auf einen absoluten Ausschluss eines Ehegattennachzugs gerichtet (vgl. insoweit BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83, 101/84, 313/84 - BVerfGE 76, 1 <65 f.>). [...]

24 bb) Die in § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG angelegte Ungleichbehandlung von vor und nach dem Verlassen des Herkunftslandes geschlossenen Ehen steht bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung nur auf Regelfälle auch im Einklang mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. [...]

26 (1) Die Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung ist im Grundsatz sachlich gerechtfertigt. Sie beruht auf der typisierenden Annahme des Gesetzgebers, dass bereits vor der Flucht geschlossene Ehen im Hinblick auf einen Familiennachzug regelmäßig schutzwürdiger sind als Ehen, die erst nach der Flucht - häufig vom Zufluchtsland aus und in Kenntnis der zunächst bestehenden Trennung - geschlossen worden sind. Das Differenzierungskriterium ist dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen. Es erweist sich für Regelfälle geringerer Schutzwürdigkeit der familiären Bindungen als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichendem Gewicht und ist geeignet dazu beizutragen, einer Überforderung der Aufnahme- und Integrationssysteme von Staat und Gesellschaft durch den Nachzug einer Mehrzahl von Familienangehörigen der in den zurückliegenden Jahren aufgenommenen Schutzberechtigten vorzubeugen. Dass dieses Ziel in den Regelfällen durch andere Maßnahmen in einer Ehe und Familie der Betroffenen weniger belastenden Art und Weise zu erreichen gewesen wäre, ist nicht erkennbar. Das Differenzierungskriterium steht auch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen. Das Instrument des Regelausschlusses erlaubt es, im konkreten Einzelfall relevanten Umständen, die das generelle Überwiegen der öffentlichen Belange gegenüber dem privaten Nachzugsinteresse der von dem Regelausschluss erfassten Personengruppe beseitigen, angemessen zu begegnen. Das gilt namentlich in Fällen, in denen die typisierende Annahme geringerer Schutzwürdigkeit nicht (vollständig) greift, etwa weil die eheliche Lebensgemeinschaft in einem Transitland bereits über einen längeren Zeitraum gelebt worden ist und/oder das Paar gemeinsame Kinder hat. [...]

28 (3) Der Umstand, dass der Familiennachzug zu Ausländern, hinsichtlich derer die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festgestellt wurden, keinem § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG entsprechenden Regelausschluss unterliegt, weist nicht auf eine gleichheitswidrige Benachteiligung der Ehegatten subsidiär Schutzberechtigter. § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG knüpft den im Ermessen stehenden Ehegattennachzug daran, dass der Nachzugswillige selbst die Voraussetzungen für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen bzw. aus politischen Interessen der Bundesrepublik erfüllt, wobei ein dringender humanitärer Grund auch anzunehmen sein kann, wenn sich die Familieneinheit auf absehbare Zeit nur im Bundesgebiet herstellen lässt (BT-Drs. 15/420 S. 81). [...]

33 [...] Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG könne nur in solchen Situationen vorliegen, die ihren Grund unmittelbar in der allgemeinen Lage im Herkunftsland des subsidiär Schutzberechtigten hätten, verletzt Bundesrecht.

34 Liegen besondere Umstände vor, die eine Gestattung des Ehegattennachzugs gebieten, so sind diese auch dann in die vorzunehmende Auslegung des Regelfalles nach § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG und dessen verfassungsrechtlich gebotene Einschränkung in Fällen, in denen die für einen Ausschluss vom Familiennachzug sprechenden Gründe nicht von hinreichendem Gewicht sind, einzustellen, wenn sie ihren Grund nicht unmittelbar in der allgemeinen Lage im Herkunftsland des subsidiär Schutzberechtigten und seines Ehegatten haben. Für die von dem Verwaltungsgericht angenommene Einschränkung der Umstände, die eine Ausnahme von der Regel zu begründen geeignet sind, bieten Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG keine zureichenden Anhaltspunkte. Spezifisch ehe- und familienbezogene Gesichtspunkte sind nicht erst im Rahmen des gemäß § 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG unberührt bleibenden § 22 Satz 1 Alt. 2 AufenthG, sondern zuvörderst innerhalb des § 36a AufenthG und dort nicht allein bei der Auslegung der humanitären Gründe des § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, sondern gerade auch bei der Prüfung einer Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG zu berücksichtigen, um die Reichweite dieses Regelausschlussgrundes auch in Umfang und Maß auf ein Maß zu beschränken, das die grundsätzlich gerechtfertigten Beschränkungen angemessen mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG in Einklang bringt. [...]

36 Danach ist für die Beantwortung der Frage, ob die aus Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG folgende Berücksichtigungspflicht es im Einzelfall gebietet, eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG anzunehmen, von maßgeblicher Bedeutung, ob der Familie erstens eine Fortdauer der räumlichen Trennung zumutbar und ob ihr zweitens eine Wiederaufnahme der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des den Nachzug begehrenden Ehegatten möglich und zumutbar ist. Bei der Bemessung der zumutbaren Trennungsdauer der Ehegatten kommt dem Wohl eines gemeinsamen Kleinkindes besonderes Gewicht zu. Dessen Belange sind regelmäßig geeignet, die von den Ehegatten hinzunehmende Trennungszeit maßgeblich zu verkürzen. Ist den Ehegatten eine (Wieder-)Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des Nachzugswilligen möglich und zumutbar, so übersteigen Wartezeiten von fünf Jahren bis zu einem Nachzug in das Bundesgebiet vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalles noch nicht das verfassungsrechtlich hinzunehmende Höchstmaß (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83, 101/84, 313/84 - BVerfGE 76, 1 <52 ff.>); sind die Ehegatten indes Eltern eines Kleinkindes, so kann dessen Wohl es bereits nach Ablauf einer Trennungszeit von drei Jahren gebieten, einen Ausnahmefall anzunehmen, mit der Folge, dass der Weg frei wird für eine ermessensgerechte Priorisierungs- und Auswahlentscheidung in dem nach § 36a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorgegebenen Rahmen. Scheidet die Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des nachzugswilligen Ehegatten demgegenüber auf absehbare Zeit aus, gewinnen die humanitären Belange an der Wiederherstellung der Familieneinheit gerade im Bundesgebiet erhebliches Gewicht. Dies gilt jedenfalls in Fällen, in denen die Weiterreise des subsidiär schutzberechtigten Familienangehörigen nicht als Betätigung eines Willens zu einer auch dauerhaften Trennung von der Familie unter endgültiger Aufgabe von Nachzugsansprüchen zu werten oder aus den Umständen, etwa der für sich allein nicht ausschlaggebenden Ehebestandsdauer, zu folgern ist, dass eine Ehe ausschließlich zu dem Zweck geschlossen worden ist, etwaige Nachzugsmöglichkeiten zu eröffnen. Fehlt es an solchen besonderen Umständen des Einzelfalles, verringern sich mit zunehmender Trennungsdauer auch die Unterschiede zu den vor der Flucht geschlossenen Ehen und wächst das Gewicht der grundrechtlich geschützten Belange an einer - dann objektiv nur im Bundesgebiet möglichen - Familienzusammenführung. Jedenfalls bei Eheschließung vor der Einreise in das Unionsgebiet liegt ohne Hinzutreten besonderer, eine Verkürzung oder Verlängerung der Trennungszeiten bewirkender Umstände dann eine Ausnahme von dem Regelausschluss des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG regelmäßig bereits bei einer mehr als vierjährigen Trennung von dem Ehegatten und einer mehr als zweijährigen Trennung von einem auf die Sorge beider Elternteile angewiesenen Kleinkind vor.

37 1.3 Nach diesen Grundsätzen steht das Urteil des Verwaltungsgerichts insoweit nicht im Einklang mit Bundesrecht, als es das Nichtvorliegen eines Ausnahmefalles nach § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG allein unter Hinweis auf das Nichtvorliegen besonderer herkunftslandbezogener Umstände verneint und die vorstehend bezeichneten Gründe - von seinem Ansatz aus folgerichtig - nicht geprüft hat. [...]

48 § 36a Abs. 1 AufenthG vermittelt dem Ausländer allein einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung. § 36a Abs. 1 Satz 3 AufenthG steht der Annahme nicht nur eines individuellen Rechtsanspruchs auf Familiennachzug (BT-Drs. 19/2438 S. 2, 16, 21 f. und 23) nach dieser Norm entgegen, sondern soll auch ein "intendiertes Ermessen" oder eine Ermessensreduzierung auf Null (Hailbronner, Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages am 11. Juni 2018, Wortprotokoll 19/17 S. 19; Zeitler, in: HTK-AuslR, § 36a AufenthG Abs. 1 Rn. 47, Stand 28. Januar 2020) ausschließen. Daher kann es bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG in besonderen Härtefällen, in denen die Verweigerung des Nachzugs grundrechtswidrig wäre, mit Blick auf die in § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorgesehene Beschränkung der Erteilung von monatlich höchstens 1 000 Visa im Einzelfall geboten sein, für den Fall einer Nichtberücksichtigung bei der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG zugleich eine Verpflichtung zur Erteilung eines Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zum Zwecke der Aufnahme aus dem Ausland nach § 22 Satz 1 AufenthG auszusprechen.

49 [...] § 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG, dem zufolge unter anderem § 22 AufenthG unberührt bleibt, erstreckt die Aufnahme aus dem Ausland im Einzelfall auch auf Angehörige der Kernfamilie subsidiär Schutzberechtigter. Dies ist etwa der Fall, wenn sich die Aufnahme des Familienangehörigen aufgrund eines Gebotes der Menschlichkeit aufdrängt und eine Situation vorliegt, die ein Eingreifen zwingend erforderlich macht, etwa bei Bestehen einer erheblichen und unausweichlichen Gefahr für Leib und Leben des Familienangehörigen im Ausland (BT-Drs. 19/2438 S. 22). Dringende humanitäre Gründe im Sinne des § 22 Satz 1 Alt. 2 AufenthG liegen zum einen dann vor, wenn sich der Ausländer aufgrund besonderer Umstände in einer auf seine Person bezogenen Sondersituation befindet, sich diese Sondersituation deutlich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet, der Ausländer spezifisch auf die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland angewiesen ist oder eine besondere Beziehung des Ausländers zur Bundesrepublik Deutschland besteht und die Umstände so gestaltet sind, dass eine baldige Ausreise und Aufnahme unerlässlich sind (BT-Drs. 15/420 S. 77; Nr. 22.1.1.2. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 <GMBl. 2009 S. 877>). Sie sind aber zum anderen auch dann gegeben, wenn besondere Umstände des Einzelfalles eine Fortdauer der räumlichen Trennung der Angehörigen der Kernfamilie des subsidiär Schutzberechtigten mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG nicht länger vereinbar erscheinen lassen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 20. März 2018 - 2 BvR 1266/17 - juris Rn. 15; BVerwG, Beschluss vom 4. Juli 2019 - 1 B 26.19 - Buchholz 402.242 § 36 AufenthG Nr. 6 Rn. 13; Thym, NVwZ 2018, 1340 <1343>; vgl. zum Darlegungserfordernis BVerfG, Kammerbeschluss vom 1. Februar 2018 - 2 BvR 1459/17 - InfAuslR 2018, 200 Rn. 15). Der Zeitpunkt, ab dem den Ehegatten und ihren minderjährigen ledigen Kindern eine weitere Trennung nicht länger zuzumuten ist, ist wiederum maßgeblich davon abhängig, ob diesen eine (Wieder-)Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat der Nachzugswilligen möglich und zumutbar ist. Die Schwelle, bei deren Erreichen die Versagung einer Familienzusammenführung im Bundesgebiet mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG schlechthin unvereinbar ist, aus humanitären Gründen mithin ein - vom Kontingent des § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG unabhängiger - Aufenthaltstitel nach § 22 Satz 1 AufenthG zu gewähren ist, liegt indes höher als jene, die durch Annahme eines Ausnahmefalles in den Fällen des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG den Zugang zu einer (kontingentgebundenen) Auswahlentscheidung (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) eröffnet. [...]