VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.02.2021 - 12 S 3852/20 - asyl.net: M29416
https://www.asyl.net/rsdb/M29416
Leitsatz:

Versagung des Eilrechtsschutzes gegen Abschiebungsandrohung wegen Ausweisung:

"1. Allein die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG entbindet im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wegen der Versagung eines Aufenthaltstitels nicht von der Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 AufenthG oder eine Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG tatsächlich vorliegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.11.2019 - 1 C 22.18 -, juris Rn. 12).

2. Die Tatsache, dass ein Ausländer im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist, steht der Annahme eines Ausweisungsinteresses im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bei einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr ohne Bewährung wegen vorsätzlicher Delikte nicht zwingend entgegen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisungsinteresse, faktischer Inländer, Straftat, Jugendstrafe, Fiktionswirkung, Atypik, gewichtete Gesamtbetrachtung
Normen: AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 2, AufenthG § 81 Abs. 3, AufenthG § 81 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Die Anordnung der Fortgeltungsfiktion gemäß § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG erfolgt durch einen Verwaltungsakt (OVG Niedersachsen, Beschluss vom 20.11.2020 - 8 ME 109/20 -, juris Rn. 11; Samel in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, § 81 Rn. 26; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 81 Rn. 87 <Stand: Januar 2019>). Eine solche Anordnung ist allerdings nicht schon in der bloßen Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung zu sehen; vielmehr bedarf es besonderer Umstände, aus denen geschlossen werden kann, dass die Behörde zumindest konkludent eine die Merkmale eines Verwaltungsakts (§ 35 LVwVfG) erfüllende Maßnahme ergriffen hat (Samel in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, § 81 Rn. 26; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.08.2020 - 11 S 1222/20 - n.v.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 15.08.2019 - 1 C 23.18 -, juris Rn. 27 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.08.2019 - OVG 11 N 122.16 -, juris Rn. 7). Für die Frage, ob ein Verwaltungsakt erlassen worden ist, und zur Bestimmung seines Inhalts ist der Wille der Behörde nicht ausschlaggebend; maßgeblich ist entsprechend §§ 133, 157 BGB der objektive Erklärungswert, d.h. es kommt darauf an, wie der Empfänger das behördliche Handeln nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der bekannten und erkennbaren Umstände verstehen musste bzw. durfte (Stuhlfauth in: Obermayer/Funke-Kaiser, VwVfG, 6. Aufl. 2021, § 35 Rn. 9 m.w.N.). Für die Frage der Anordnung der Fortgeltungsfiktion gilt nichts anderes (Hessischer VGH, Beschluss vom 24.11.2016 - 3 B 2556/16 U -, juris Rn. 7 ff.).

Aus den Akten der unteren Ausländerbehörde ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass es bei der Ausstellung der für drei Monate geltenden Fiktionsbescheinigung vom 16.10.2017 und der weiteren, befristeten Fiktionsbescheinigungen einen anderen Beweggrund gegeben hätte als den der Aushändigung irgendeines Legitimationspapieres für den Antragsteller, mit dem dokumentiert wird, dass er im Bundesgebiet anwesend sein darf. Es ist weder vorgetragen noch anhand der Ausländerakten ersichtlich, dass aufgrund individueller Umstände in der Person des Antragstellers nach dem objektiven Empfängerhorizont eine bewusste Entscheidung seitens der Behörde getroffen worden wäre, ihm die Vorteile der Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG (vgl. näher BVerwG, Urteil vom 19.11.2019 - 1 C 22.18 -, juris Rn. 15) zukommen zu lassen. Der Antragsteller hat in dem relevanten Zeitraum allenfalls noch sporadisch die Schule besucht und ist im Übrigen inhaftiert gewesen. Einer Erwerbstätigkeit ist er nicht nachgegangen; er hat diesbezüglich auch keine Bemühungen entfaltet. Im Übrigen verdeutlicht der Umstand, dass die Ausländerbehörde - in Verkennung der Rechtslage - dem Antragsteller eine Bescheinigung mit dem Hinweis auf § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausgestellt hat, dass gerade keine individuelle Prüfung einer unbilligen Härte vorgenommen worden ist. [...]

3. Ist ein Ausweisungsinteresse vorhanden, so führt dies nach § 5 Abs. 1 AufenthG in der Regel dazu, dass ein Aufenthaltstitel zu versagen ist. Allerdings ist eine Ausnahme hiervon anzunehmen, wenn besondere, atypische Umstände gegeben sind, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie Art. 6 oder Art. 2 Abs. 1 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRCh eine Titelerteilung geboten ist (vgl. etwa Fleuß in: Dörig, Handbuch des Migrations- und Integrationsrechts, 2. Aufl. 2020, § 5 Rn. 54, 58). Liegt eine solche Fallkonstellation vor, hat dies zur Folge, dass eine noch im Zentralregister eingetragene Verurteilung die Titelerteilung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht hindert. Im Rahmen der Atypik kann unter anderem von Bedeutung sein, ob in der Persönlichkeit oder den Lebensverhältnissen des Ausländers positive Änderungen eingetreten sind, welche die Annahme rechtfertigen, er werde künftig nicht mehr straffällig (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.11.2009 - 13 S 2002/09 -, juris Rn. 37; BVerwG, Urteil vom 28.01.1997 - 1 C 23.94 -, juris Rn. 22; vgl. dazu, dass eine zu § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG a.F. und inhaltlich entsprechenden Vorläufervorschriften ergangene Rechtsprechung auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in der seit 01.08.2015 geltenden Fassung übertragbar ist, BVerwG, Urteil vom 12.07.2018 - 1 C 16.17 -, juris Rn.15). [...]