OLG Hamm

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Zitieren als:
OLG Hamm, Beschluss vom 04.03.2021 - 15 W 80/21 - asyl.net: M29435
https://www.asyl.net/rsdb/M29435
Leitsatz:

Rechtswidrigkeit einer Wohnungsdurchsuchung ohne konkrete Anhaltspunkte:

1. Eine Wohnungsdurchsuchung zum Zwecke des Auffindens von Identitätspapieren darf nur angeordnet werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich in der Wohnung Ausweispapiere oder sonstige zur Identifizierung geeignete Dokumente befinden.

2. Keine konkreten Anhaltspunkte in diesem Sinne sind die Verletzung der aufenthaltsrechtlichen Mitwirkungspflichten durch die betroffene Person und ein durch die Behörde vorgetragener allgemeiner Erfahrungsschatz, wonach "nahezu" alle ausreisepflichtigen Personen Identitätspapiere besitzen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Wohnungsdurchsuchung, Pass, Mitwirkungspflicht, Identitätsnachweis, Ausreisepflicht, Anhaltspunkte, Unverletzlichkeit der Wohnung, Grundrechte,
Normen: PolG NRW § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, PolG NRW § 43, GG Art. 13,
Auszüge:

[...]

Im gegebenen Fall lagen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage, auf die er gestützt ist, nicht vor.

Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PolG kann die Ordnungsbehörde eine Wohnung ohne Einwilligung des Inhabers betreten und durchsuchen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in ihr eine Sache befindet, die nach § 43 PolG NRW sichergestellt werden darf. Gemäß § 43 Satz 1 Nr. 1 PolG kann eine Sache sichergestellt werden, um eine gegenwärtige Gefahr abzuwehren. Eine Gefahr ist eine Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird. Die öffentliche Sicherheit umfasst insbesondere die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung. Der Beteiligte zu 1) hält sich als Ausländer unter Verstoß gegen § 4 AufenthG ohne Aufenthaltstitel in Deutschland auf. Dies stellt - wie das Amtsgericht in dem angefochtenen Beschluss noch zutreffend festgestellt hat - eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit dar.

Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts und des Beteiligten zu 2) lagen jedoch aus der maßgeblichen Ex-ante-Sicht keine hinreichenden Tatsachen vor, die die Annahme rechtfertigten, dass · sich in der Wohnung des Beteiligten zu 1) Sachen befanden, die nach den oben genannten Vorschriften sichergestellt werden durften.

Tatsachen in diesem Sinne setzen konkrete Anhaltspunkte dafür voraus, dass sich in der zu durchsuchenden Wohnung Ausweispapiere oder sonstige zur Identifizierung geeignete Dokumente befinden (QLG Braunschweig Asylmagazin 2020, 182 f; OLG Düsseldorf, NVwZ-RR 2018; OLG Frankfurt FGPrax 2007, 42; OLG Köln - Beschluss vom 31. August 2001 - 16 Wx 194/01 - zitiert nach juris). Allein die schlichte Möglichkeit, dass bei dem Beteiligten zu 1) zur Identifizierung geeignete Dokumente gefunden werden könnten, genügt für den Erlass einer Durchsuchungsanordnung nicht (OLG Braunschweig a.a.O.; Düsseldorf, a.a.O.). Eine allgemeine Lebenserfahrung, nach der ("nahezu") alle ausreisepflichtigen Ausländer über Identitätsnachweise verfügen, die sie den Ausländerbehörden bewusst vorenthalten, um eine Rückführung in Heimatland zu erschweren oder zu vereiteln, vermag der Senat in dieser Form nicht anzuerkennen. Entscheidend sind vielmehr die jeweiligen besonderen Umstände des Einzelfalles. Konkrete Anhaltspunkte sind jedoch weder bei Antragstellung noch mit der Beschwerdeerwiderung durch den Beteiligten zu 2) vorgetragen worden.

Soweit einzelne Stimmen in der Literatur in diesem Zusammenhang die Auffassung vertreten, um die Anforderungen an eine Wohnungsdurchsuchung "nicht praxisfern zu überspannen", rechtfertige bereits die Weigerung, bei der Passersatzpapierbeschaffung mitzuwirken, den tatsachenbegründeten Verdacht, dass der Ausländer von ihm verheimlichte echte Papiere in seiner Wohnung oder an seinem Körper aufbewahre, um seinen illegalen Aufenthalt fortzusetzen (so Neuhäuser, in: BeckOK PolR Nds, Stand: 01.05.2019, § 24 Nds. SOG, Rn. 35a), vermag der Senat dem nicht beizutreten. Zwar kann sich aus dem Umstand, dass ein Ausländer hartnäckig seine Mitwirkungspflichten aus § 48 Abs. 3 AufenthG verletzt und hierdurch zugleich den Bußgeldtatbestand des § 98 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG verwirklicht, auch regelhaft der Schluss ziehen lassen, dass er hierdurch das Ziel erreichen möchte, nicht in sein Heimatland zurückkehren zu müssen. Dies stellt aber evident kein Indiz dafür dar, dass er in seiner Wohnung Ausweisdokumente aufbewahrt (OLG Braunschweig a.a.O). Ob der Beteiligte zu 1) daher tatsächlich - was er bestreitet - gegen seine Mitwirkungspflichten bei der Beschaffung von Passersatzpapieren verstoßen hat bzw. weiter verstößt, kann daher an dieser Stelle dahingestellt bleiben.

Unabhängig davon stellt sich die Durchsuchungsanordnung in Ansehung des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung als nicht verhältnismäßig dar.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts greift eine Wohnungsdurchsuchung in die durch Artikel 13 GG geschützte Lebenssphäre schwerwiegend ein und kann nur unter Beachtung der Bedeutung des Grundrechts und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit angeordnet werden (vgl. BVerfG, FamRZ 2009, 1814). Aus diesem folgt, dass der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene Eingriff in das Grundrecht des Art. 13 Abs. 1 GG in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen muss. Es ist dabei insbesondere auch der Grad des auf die verfahrenserheblichen Informationen bezogenen. Auffindeverdachts zu berücksichtigen (BVerfG, a.a.O.). Dieser Verdacht ist im gegebenen Fall - wie ausgeführt - nicht im Ansatz konkret begründet worden. [...]