VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.03.2021 - 12 S 3587/20 - asyl.net: M29439
https://www.asyl.net/rsdb/M29439
Leitsatz:

Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts aufgrund von in Haft begangener schwerer Körperverletzung:

"Eine schwerwiegende Misshandlung eines Mitgefangenen, weil dieser nach dem subkulturellen Verständnis am Ende der Gefangenenhierarchie steht, beeinträchtigt das Funktionieren des Strafvollzugs als Einrichtung des Staates. Derartige Straftaten sind geeignet, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG zu begründen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Abschiebungsandrohung, öffentliche Sicherheit, öffentliche Ordnung, Gewalttätigkeit, Wiederholungsgefahr, Straftat, Jugendstrafe, Einrichtungen des Staates,
Normen: AEUV Art. 83, RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3, FreizügG/EU § 6 Abs. 5 S. 3,
Auszüge:

[...]

Entgegen der Auffassung des Antragstellers sind die Straftaten, die Ausgangspunkt einer Verlustfeststellung sein können, nicht allein die in Art. 83 AEUV aufgeführten Delikte Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 22.05.2012 (C-348/09 - P.I. -, juris) diese Straftaten exemplarisch als einen Anwendungsfall formuliert, der zur Bejahung zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit führen kann (siehe Rn. 28: "…es den Mitgliedstaaten freisteht, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten"; bzw. in der englischen Urteilsfassung "…criminal offences such as those referred …"). Dies schließt es vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Autonomie der Mitgliedstaaten somit gerade nicht aus, dass auch andere strafrechtliche Verhaltensweisen als die in Art. 83 AEUV genannten als eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit im unionsrechtlichen Verständnis eingeordnet werden können, sofern sie in der Tatbegehung das erforderliche Gewicht haben. Die Delikte müssen auch keine grenzüberschreitende Dimension haben, wie der dem Urteil vom 22.05.2012 zugrundeliegende Sachverhalt verdeutlicht (vgl. Rn. 10). Soweit der Antragsteller meint, Körperverletzungs- und Eigentumsdelikte seien von vornherein nicht geeignet, unionsrechtlich taugliche Straftaten für eine Verlustfeststellung zu sein, entspricht dies zum einen nicht der tatsächlichen Palette der bei ihm abgeurteilten Straftaten (siehe oben unter c). Zum anderen setzt er sich mit der konkreten Argumentation des Verwaltungsgerichts, insbesondere weshalb die folterähnliche Dimension seiner in der Vollzugsanstalt begangenen Straftaten den Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union genügen, schon nicht in der gebotenen Weise auseinander.

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Straftaten des Antragstellers seien in der Lage, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG zu begründen, in der Sache zutreffend ist. Eine schwerwiegende Misshandlung eines Mitgefangenen, weil dieser nach dem subkulturellen Verständnis am Ende der Gefangenenhierarchie steht, beeinträchtigt das Funktionieren des Strafvollzugs als Einrichtung des Staates. Derartige Straftaten sind geeignet, zu einer Verlustfeststellung nach Art. 28 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG zu führen.

Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union anerkannt, dass die öffentliche Sicherheit im unionsrechtlichen Verständnis auch das Funktionieren von Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste umfasst (EuGH, Urteile vom 23.11.2010 - C-145/09 - Tsakouridis -, juris Rn. 44, und vom 24.06.2015 - C-373/13 - H.T-, juris Rn. 78; Hailbronner, Ausländerrecht, § 6 FreizügG/EU Rn. 83 - jew. m.w.N; ebenso EuGH, Urteil vom 02.07.2020 - C-18/19 - WM -, juris Rn. 44 zu Art. 7 Abs. 4 Richtlinie 2008/115/EG). Beim Strafvollzug handelt es sich um eine staatliche Einrichtung in diesem Sinne. Es ist allein Sache des Staates zu bestimmen, welche Regeln innerhalb einer Strafanstalt in Verfolgung des Zieles eines menschenwürdigen, geordneten Strafvollzugs gelten. Die in der Strafanstalt verübten Straftaten des Antragstellers beeinträchtigten aufgrund ihrer Ausrichtung und ihres menschenverachtenden Charakters das Funktionieren des Vollzugs.

Der Vollzug bezweckt die (Jugend-) Strafgefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen; er hat weiterhin die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen (vgl. § 1 JVollzGB IV BW, § 2 JVollzGB I BW). Bei einer - nicht zur Bewährung ausgesetzten - Jugendstrafe soll somit insbesondere mit den Mitteln des Jugendstrafvollzugs schädlichen Neigungen erzieherisch entgegengewirkt werden. Die Sicherheit und Ordnung der Anstalt bilden die Grundlage des auf die Förderung und Erziehung aller Jugendstrafgefangenen ausgerichteten Anstaltslebens und tragen dazu bei, dass in der Anstalt ein gewaltfreies Klima herrscht (vgl. etwa §§ 57 ff. JVollzGB IV BW). Die - nicht im polizeirechtlichen Sinne zu verstehende - äußere und innere Sicherheit und Ordnung ist Grundbedingung für ein Anstaltsleben, das von Angstfreiheit, wechselseitigem Respekt und gegenseitiger Akzeptanz geprägt ist (Sonnen/Baur in: Diemer/Schatz  Sonnen, JGG, 8. Aufl. 2020, Teil II Jugendstrafvollzugsgesetz der Länder, § 83 Rn. 2 ff.). Dass Strafvollzug funktioniert und dessen Ziele erreicht werden können, liegt nicht nur im Interesse des Einzelnen. Dies ist vor allem ein staatlicher und gesellschaftlicher Belang. Menschenwürdige, geordnete Verhältnisse in einer Strafanstalt sind hierfür eine Grundbedingung. Wird Gewalt und Erniedrigung unter den Gefangenen praktiziert, berührt dies die Funktion des Strafvollzugs. Dies gilt erst recht, wenn solches im Zuge einer Subkulturbildung eingesetzt wird. Eine Gestaltung des Strafvollzugs dahingehend, dass keine Misshandlungen oder Erniedrigungen von Gefangenen - auch nicht von Insassen untereinander - stattfinden, ist zudem eine europäische Forderung. Dies verdeutlicht beispielhaft die Einrichtung des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) , zu dessen Aufgaben es gehört, Hafteinrichtungen zu besuchen, um zu prüfen, wie Menschen behandelt werden, denen die Freiheit entzogen ist. Die Prüfung des Komitees erstreckt sich auch darauf, ob es Gewalt unter den Insassen gibt (vgl. exemplarisch den Bericht an die deutsche Regierung über den Besuch des CPT vom 25.11. bis 07.12.2015 vom 01.06.2017, Europarat CPT/Inf (2017) 13, S. 26 - abrufbar unter www.bmjv.de). [...]