OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.03.2021 - 3 S 120/20 - asyl.net: M29442
https://www.asyl.net/rsdb/M29442
Leitsatz:

Vorläufige Erteilung einer Ausbildungsduldung:

1. Nach § 60b Abs. 2 S. 1 AufenthG ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Drittstaatsangehöriger dazu verpflichtet, alle Handlungen zur Beschaffung eines Passes vorzunehmen, die unter Berücksichtigung des Einzelfalls zumutbar sind.

2. Diese Pflicht gilt nach § 60b Abs. 2 S. 2 AufenthG jedoch nicht für Personen, deren Asylantrag noch nicht rechtskräftig abgelehnt worden ist. Dies schließt auch die Fälle ein, in denen ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden und ein hiergegen gerichteter Eilantrag erfolglos geblieben ist.

3. Nach § 60c Abs. 7 AufenthG kann eine Ausbildungsduldung auch bei ungeklärter Identität erteilt werden, wenn die betroffene Person die zumutbaren Maßnahmen zur Identitätsklärung ergriffen hat. Hiervon ist jedenfalls dann auszugehen, wenn die Behörde nicht konkret darlegt, welche Handlungen die betroffene Person zur Identitätsklärung hätte vornehmen sollen. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, Identitätstäuschung, Identitätsklärung, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Asylverfahren, offensichtlich unbegründet, einstweilige Anordnung, Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, Rechtskraft, Ermessen,
Normen: AufenthG § 60c Abs. 2 Nr. 1, AufenthG § 60a Abs. 6, AufenthG § 60c Abs. 7, AufenthG § 60b Abs. 2 S. 1, AufenthG § 60b Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerdebegründung greift mit Erfolg die in dem angefochtenen Beschluss vertretene Auffassung an, der Erteilung der erstrebten und (jedenfalls) mit Eingang von Ausbildungsvertrag und Eintragungsbestätigung beim Antragsgegner im Mai 2020 beantragten Ausbildungsduldung stünden Versagungsgründe nach § 60c Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 60a Abs. 6 AufenthG sowie - unabhängig davon - nach § 60c Abs. 2 Nr. 3 AufenthG entgegen. [...]

Es kann dahinstehen, ob ihr Vorbringen, Voraussetzung für die Ausstellung eines "Emergency Passport" sei unter anderem die Vorlage eines gültigen Flugtickets, und eine Prüfung und Anerkennung von Geburtsurkunden könne nicht in den beiden Konsulaten Gambias in Deutschland vorgenommen, sondern allenfalls in der garnbischen Botschaft in Brüssel beantragt werden, mit der Angabe, diese Informationen beruhten auf einer telefonischen Auskunft der Konsulatsmitarbeiterin Frau D. am 6. Oktober 2020 gegenüber der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers, eine schriftliche Antwort sei verweigert worden, hinreichend glaubhaft gemacht worden ist (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Falls ja, wäre zu berücksichtigen, dass der Senat mit Beschluss vom 7. November 2019 - OVG 3 S 111.19 - (juris Rn. 6 f.) im Rahmen von Passbeschaffungsbemühungen eine Verpflichtung, selbst eine Flugbuchung - sei es auf eigene Kosten oder mit finanzieller Unterstützung von dritter Seite - vorzunehmen, für nicht erkennbar gehalten hat.

Die Beschwerde weist jedenfalls zu Recht darauf hin, dass nach § 60b Abs. 2 Satz 2 AufenthG die Pflicht eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers, alle ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zurnutbaren Handlungen zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzes selbst vorzunehmen (§ 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG) nicht für Ausländer ab der Stellung eines Asylantrages oder -gesuches bis zur rechtskräftigen Ablehnung des Asylantrages gilt, was nach dem Wortlaut der Vorschrift auch Fälle einschließt, in denen - wie hier - der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden und ein Antrag auf Eilrechtsschutz erfolglos geblieben ist (vgl. Hailbronner, AufenthG, § 60b Rn. 34; s.a. Nr. 60c.2.3.4 der Anwendungshinweise des BMI vom 20. Dezember 2019). Unter Berücksichtigung dieser Wertung im Rahmen von § 60c Abs. 2 Nr. 1, § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG spricht Überwiegendes dafür, dass der Antragsteller zu Passbeschaffungsbemühungen nicht vor Zustellung des - nach Angaben der Beschwerde - am 21. Oktober 2020 ergangenen, den Antrag auf Zulassung der Berufung ablehnenden Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts verpflichtet war. Eine Untätigkeit seither kann indessen nicht als so beharrlich angesehen werden, dass die mangelnde Mitwirkung unter Berücksichtigung der Regelbeispiele des § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG ein Gewicht erreichen würde, das es rechtfertigen würde, sie einem aktiven Handeln gleichzusetzen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. November 2019 - OVG 3 S 111.19 - juris Rn. 5). Dies gilt umso mehr, als die Hinweise des Antragsgegners in seinem Bescheid vom 2. Juni 2020 und dem Widerspruchsbescheid vom 1. September 2020 auf die vom Antragsteller erwarteten Bemühungen um Passersatzpapiere, ggf. unter Einschaltung eines Rechtsanwalts im Heimatland, vage bleiben. [...]

Die Beschwerde weist indessen zutreffend darauf hin, dass nach § 60c Abs. 7 AufenthG eine Ausbildungsduldung unbeachtlich des Absatzes 2 Nummer 3 erteilt werden kann, wenn der Ausländer die erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung ergriffen hat. Dies dürfte hier schon deshalb zu bejahen sein, weil weder der Antragsgegner noch das Verwaltungsgericht konkrete Vorstellungen dazu geäußert haben, welche weiteren Maßnahmen der Antragsteller, der sich immerhin um eine Geburtsurkunde bzw. einen entsprechenden Registerauszug bemüht hat, zur Klärung seiner Identität hätte ergreifen können und müssen. Die allgemeinen Hinweise im Bescheid des Antragsgegners vom 2. Juni 2020 sowie im Widerspruchsbescheid vom 1. September 2020, es sei dem Antragsteller zuzumuten, einen Rechtsanwalt im Heimatland zu beauftragen, verbunden mit der Äußerung genereller Zweifel an den Angaben des Antragstellers ("wird von ausreiseunwilligen Ausländern ... geradezu standardmäßig vorgetragen", "darf bei Ausreiseunwilligen als typisch angesehen werden", "in aller Regel wenig glaubhaft"), lassen konkrete Angaben dazu vermissen. welche Wege der Antragsteller zur Klärung seiner Identität beschreiten könne und solle. Dies gilt auch hinsichtlich der Ausführungen im Widerspruchsbescheid, dass "die vorgetragenen Bemühungen ... völlig ungenügend" seien und "nicht ersichtlich" sei, dass der Antragsteller während des mehrjährigen Aufenthalts keine Möglichkeit gehabt habe, identitätsklärende Dokumente zu beschaffen, wobei der Antragsgegner zudem davon ausgeht, dass das Asylverfahren des Klägers schon 2017 abgeschlossen worden sei, mithin das Klageverfahren ausblendet.

Das bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 60c Abs. 7 Aufenti1G eröffnete Ermessen hat der Antragsgegner nicht ausgeübt. Ob die zu treffende Ermessensentscheidung, wie die Beschwerde meint, rechtmäßig nur zu Gunsten des Antragsstellers ausfallen kann, weil ihm schon die Einstiegsqualifizierung bei dem ausbildenden Betrieb erlaubt worden ist, mag nicht völlig zweifelsfrei sein, kann indessen dahinstehen. Tragfähige Ermessenserwägungen gegen ein Absehen vom Erfordernis der Identitätsklärung drängen sich jedenfalls nicht auf, zumal auch der Antragsgegner bisher nicht deutlich gemacht hat, dass und welche konkreten Schritte zur Klärung der Identität des Antragstellers aus seiner Sicht erfolgversprechend sein könnten. Bei dieser Sachlage gebietet die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung, weil dem Antragsteller angesichts des Ausbildungszeitraums von zwei Jahren und der bereits verstrichenen Zeit seit dem vorgesehenen Ausbildungsbeginn am 1. September 2020 ein weiteres Abwarten bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung des Hauptsacheverfahrens nicht zuzumuten ist. [...]