VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 05.07.2002 - 12 TG 959/02 - asyl.net: M3113
https://www.asyl.net/rsdb/M3113
Leitsatz:

Durch § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO ist die Prüfung im Beschwerdeverfahren auf die vom Beschwerdeführer fristgerecht vorgebrachten Gründe beschränkt; das Beschwerdegericht darf weder zu dessen Gunsten noch zu dessen Lasten andere tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte prüfen, ermitteln und verwerten.(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Türken, Ausweisung, Straftäter, Freiheitsstrafe, Jugendstrafe, Ist-Ausweisung, Besonderer Ausweisungsschutz, Regelausweisung, Atypischer Ausnahmefall, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr, Sozialprognose, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Beschwerde, Prüfungsumfang, Prüfungskompetenz, Suspensiveffekt
Normen: VwGO § 146; ARB Nr. 1/80 Art. 7; ARB Nr. 1/80 Art. 13; ARB Nr. 1/80 Art. 14; AuslG § 47
Auszüge:

Nach dem Vorbringen des Antragstellers im Beschwerdeverfahren ist festzuhalten, dass das Verwaltungsgericht den Antrag auf Wiederherstellung und Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die ausländerbehördliche Verfügung vom 20. Februar 2002 zu Unrecht abgelehnt hat. Die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung sind nämlich offenbar rechtswidrig, und im Hinblick darauf rechtfertigen es öffentliche Belange unter Berücksichtigung der hier gegebenen persönlichen Verhältnisse nicht, den Rechtsschutzanspruch des Antragstellers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (BVerfG, 21.03.1985 - 2 BvR 1642/83 -, BVerfGE 69, 220 = EZAR 622 Nr. 1; BVerfG, 18.07.1973 - 1 BvR 23, 155/73 -, BVerfGE 35, 382; BVerfG - Kammer, 12.09.1995 - 2 BvR 1179/95 -; Hess. VGH, 09.11.1995 - 12 TG 2783/95 -; Hess. VGH, 22.09.1988 - 12 TH 836/988 -, EZAR 622 Nr. 6 = InfAuslR 1989, 14). Diese Interessenabwägung kann allerdings nur für den Zeitraum bis zur Entscheidung über den Widerspruch vorgenommen werden, da nicht auszuschließen ist, dass die Widerspruchsbehörde auf der Grundlage des sonstigen Inhalts der angegriffenen Verfügung die im Folgenden festgestellten Mängel zu beheben vermag.

Zu Recht beanstandet der Antragsteller, dass das Verwaltungsgericht die Ausweisung auch unter Berücksichtigung von Art. 7 ARB 1/80 für zulässig erachtet hat.

Soweit der beschließende Senat im Beschwerdeverfahren aufgrund von § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO zur Überprüfung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses befugt ist, erweist sich dieser aufgrund des Beschwerdevorbringens als rechtsfehlerhaft, weil das Verwaltungsgericht zu Unrecht angenommen hat, die Antragsgegnerin habe die Ausweisung zutreffend auf spezialpräventive Gesichtspunkte gestützt.

Der beschließende Senat sieht sich aufgrund der zwingenden Vorschrift des § 146 Abs. 4 S. 6 daran gehindert, darüber hinaus zu Gunsten oder zu Lasten des Antragstellers den angegriffenen Beschluss und mittelbar die Ausweisungsverfügung inhaltlich zu überprüfen. Nach dieser mit Wirkung vom 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Bestimmung prüft das Oberverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren nur die dargelegten Gründe. Eine am Wortlaut orientierte Textexegese ergibt, dass das Beschwerdegericht auf die Prüfung beschränkt ist, ob sich die angegriffene verwaltungsgerichtliche Entscheidung über vorläufigen Rechtsschutz nach §§ 80, 80a oder 123 VwGO als richtig oder als unrichtig erweist. Der Gesetzeswortlaut bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass das Beschwerdegericht befugt sein soll, die Prüfung auf andere als die mit der Beschwerde dargelegten Gründe für die Unrichtigkeit der Entscheidung des VG oder darauf zu erstrecken, dass sich diese trotz eines Fehlers im Ergebnis als richtig erweist.

Diese Auslegung wird durch den Zusammenhang der Regelungen über Rechtsmittel im Verwaltungsprozess bestätigt. Im Berufungsverfahren prüft das Gericht den Streitfall innerhalb des Berufungsantrags im gleichen Umfang wie das Verwaltungsgericht und berücksichtigt grundsätzlich auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel (§§ 129 VwGO). Diese Regeln gelten für das Revisionsverfahren entsprechend, soweit nicht in den §§ 142 bis 144 VwGO etwas anderes bestimmt ist (§ 141 VwGO). Danach ist die Prüfung des Revisionsgerichts innerhalb der im Revisionsverfahren gestellten Anträge nicht weiter beschränkt, das Revisionsgericht ist aber grundsätzlich nicht zu eigenen Tatsachenfeststellungen berechtigt, und im Übrigen ist die Revision zurückzuweisen, wenn die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts ergeben, die Entscheidung selbst sich aber aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO). Diese Regelungen sprechen dafür, dass auch im Beschwerdeverfahren die Prüfungs- und Abänderungsbefugnis des Beschwerdegerichts auf die vorgebrachten Beschwerdegründe beschränkt ist.

Schließlich ergeben Sinn und Zweck des § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO sowie dessenEntstehungsgeschichte keine Anhaltspunkte dafür, dass die Prüfung des Beschwerdegerichts ganz oder teilweise über die von dem Beschwerdeführer dargelegten Gründe hinausgehen darf, sollte oder muss. In dem ursprünglichen Gesetzesantrag war eine dem Inhalt von § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO gleiche oder ähnliche Vorschrift nicht enthalten (vgl. BT-Drs. 14/6854). Danach sollten nämlich die Absätze 4 bis 6 des früheren § 146 VwGO gestrichen werden (vgl. auch BT-Drs. 14/7474 S. 10). Die endgültige Neufassung beruht auf der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 12. Dezember 2001 (BT-Drs. 14/7779), dem eine Begründung nicht beigefügt ist.

Aus alledem kann nach Auffassung des beschließenden Senats ohne Weiteres darauf geschlossen werden, dass das Beschwerdegericht auf die Prüfung der Gründe beschränkt ist, die zwingend mit der Beschwerde dargelegt werden müssen, weil die Beschwerde bei fehlender Begründung als unzulässig zu verwerfen ist (§ 146 Abs. 4 S. 4 VwGO), und dass damit der Beschwerdeführer mit der Beschwerdebegründung in verbindlicher Weise den Kontrollumfang des Rechtsmittelverfahrens begrenzt (so ausdrücklich Kuhl a/Hüttenbrink, DVBl. 2002, 85, 91).

Mit dieser Auslegung wird den Bemühungen des Gesetzgebers Rechnung getragen, einerseits die Restriktionen und Schwierigkeiten aufgrund des letztlich als untauglich erwiesenen Beschwerdezulassungsverfahrens zu beseitigen und andererseits nicht wieder zu der unbeschränkten Prüfungszuständigkeit des Beschwerdegerichts nach der ursprünglich geltenden Fassung des § 146 VwGO über die zulassungsfreie Beschwerde zurückzukehren. Diesem Zweck dient erkennbar die Notwendigkeit für den Beschwerdeführer, einen bestimmten Antrag zu stellen, sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander zu setzen und die Gründe darzulegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist (§ 146 Abs. 4 S. 3 VwGO). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, ist die Beschwerde ohne irgendeine Sachprüfung als unzulässig zu verwerfen (§ 146 Abs. 4 S. 4 VwGO; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, 11.04.2002 - 1 S 705/02 -; VGH Baden-Württemberg, 12.04.2002 - 7 S 653/02 -; OVG Nordrhein-Westfalen, 18.03.2002 - 7 B 315/02 -). Die vom Gesetzgeber erkennbar gewünschte Beschleunigung der Beschwerdeverfahren aufgrund einer Beschränkung der Sachprüfung wäre nicht zu erreichen, wenn das Beschwerdegericht zu einer umfassenden Prüfung schon dann verpflichtet wäre, wenn die erstinstanzliche Entscheidung fristgerecht mit zutreffenden Erwägungen in Frage gestellt wird (so aber OVG Nordrhein-Westfalen, 18.03.2002 - 7 B 315/02 -), und wenn allein die Gesichtspunkte beschränkt werden sollten, aus denen sich die Entscheidung nach Ansicht des Beschwerdeführers als unrichtig erweist, nicht dagegen die Gründe, aus denen sie tatsächlich richtig ist, und wenn das Beschwerdegericht die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes anhand der allgemeinen Maßstäbe zu überprüfen hätte, falls die von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Bedenken gegen die Entscheidung durchgreifen (so OVG Nordrhein-Westfalen, 08.05.2002 - 1 B 241/02 -; ähnlich differenzierend und außerdem für die Zulässigkeit neuen Vorbringens und neuer Aspekte zu Lasten des Beschwerdeführers Eyermann, VwGO, Nachtrag zur 11. Aufl., 2002, § 146 Rdnr. N 4). Schließlich vermag der Senat auch nicht der Ansicht beizupflichten, dass die Neufassung von § 146 Abs. 4 S. 6 lediglich die Amtsermittlungspflicht des Beschwerdegerichts beschränkt, seine Befugnis zur umfassenden Interessenabwägung und zur vollständigen Prüfung entscheidungserheblicher Tatsachen und Rechtsfragen aber unberührt lässt (so BayVGH, 23.01.2002 - 25 CS 02.172 -, BayVBl. 2002, 306). Wenn danach aufgrund der beschränkten Prüfung des Beschwerdegerichts die Möglichkeit besteht, dass in dem späteren Berufungsverfahren abweichende Tatsachenfeststellungen getroffen und andere rechtliche Bewertungen vorgenommen werden als in dem Eilverfahren nach §§ 80, 80 a, 123 VwGO, dann spricht dies nicht gegen die hier gewählte Auslegung (so aber BayVGH, a.a.O.), sondern ergibt sich unmittelbar aus der vom Gesetzgeber gewollten Beschränkung des Prüfungsumfangs im Beschwerdeverfahren. Im Übrigen sind derartige Abweichungen zwischen dem vorläufigen und dem endgültigen Rechtsschutzverfahren nicht ungewöhnlich, weil in dem letzteren lediglich eine summarische Überprüfung der angegriffenen Behördenentscheidungen stattfindet, eine Interessenabwägung und keine strenge Rechtmäßigkeitskontrolle vorgenommen wird und Veränderungen der Sach- und Rechtslage ohnehin grundsätzlich im Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen sind.

Danach ist der Senat im vorliegenden Verfahren an einer Prüfung und an einer Entscheidung darüber gehindert, dass die Ausländerbehörde die Ausweisung erst im Februar 2002 verfügt hat, obwohl ihr das im Mai 2000 rechtskräftig gewordene Strafurteil vom 8. Oktober 1999 jedenfalls im Juli 2000 vorlag (zur Notwendigkeit einer unverzüglichen Entscheidung über die Ausweisung nach strafgerichtlicher Verurteilung vgl. im Einzelnen Nr. 45.0.6.1. bis 45. 0.6.4.1 AuslG-VwV und Hess. VGH, 04.0.2002 - 12 UE 203/02 -, EZAR 030 Nr. 7) und ob die von der Ausländerbehörde im Zusammenhang mit den Erwägungen über eine Ausnahme von der Regel-Ausweisung, über den Eingriff in den Schutzbereich von Art. 6 GG und ARt. 8 EMRK und über die Notwendigkeit des Sofortvollzugs mitgeteilten tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen die Annahme rechtfertigen, von dem Antragsteller gehe künftig eine Gefahr für die Allgemeinheit aus, der durch seine Ausweisung begegnet werden müsse (vgl. dazu Nr. 45.0.3.1.1 bis 45.0.3.1.3.6 AuslG-VwV). Infolge dessen kann und braucht der Senat auch nicht darüber zu entscheiden, dass eine Ausweisung des Antragstellers nach Maßgabe von Art. 7 und 14 ARB 1/80 nur dann in Betracht gezogen werden kann, wenn die besonderen Voraussetzungen erfüllt sind, die das Gemeinschaftsrecht allgemein für aufenthaltsbeendende Maßnahmen aufstellt.