VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 19.11.2002 - 5 UE 4670/96.A - asyl.net: M3620
https://www.asyl.net/rsdb/M3620
Leitsatz:

Tamilen droht, insbesondere unter Berücksichtigung der neueren politischen Lage, heute und in naher Zukunft in keinem Landesteil Sri Lankas mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit eine gruppengerichtete politische Verfolgung (im Anschluss an Urteil des Senats vom 3.5.2000 -5 UE 4657/96.A -).(Amtlicher Leitsatz)

 

Schlagwörter: Sri Lanka, Tamilen, Bürgerkrieg, Festnahme, Verfolgungszusammenhang, Gruppenverfolgung, Politische Entwicklung, Interne Fluchtalternative, Friedensverhandlungen, Terrorismusbekämpfungsgesetz, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Ausgehend von dieser politischen Entwicklung in Sri Lanka und den Bekundungen der Klägerin zu 1. kann nicht festgestellt werden, dass die Kläger zum Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Sri Lanka im Jahre (...) individuell politisch verfolgt waren oder dass ihnen seinerzeit unmittelbar eine solche Verfolgung drohte. Sowohl bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, als auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat die Klägerin zu 1. im Wesentlichen typische Ereignisse des Bürgerkriegs in Sri Lanka geschildert. Staatlichen Maßnahmen der Sicherheitsorgane oder der srilankischen Armee war sie nach ihren eigenen Ausführungen lediglich (...) ausgesetzt. Damals wurde sie im Stadtteil (...) festgenommen und in der Polizeistation (...) zwei Tage lang festgehalten. Es kann dahingestellt bleiben, ob dieser kurzfristigen Inhaftierung überhaupt eine asylrelevante Eingriffsintensität zukam. Jedenfalls würde es an dem notwendigen kausalen Zusammenhang zwischen der Verfolgungsmaßnahme und der Flucht fehlen. Die Ausreise muss sich bei objektiver Betrachtung nach ihrem äußeren Erscheinungsbild als eine unter dem Druck erlittener Verfolgung stattfindende Flucht darstellen. Ein Ausländer ist daher grundsätzlich nur dann als verfolgt ausgereist anzusehen, wenn er seinen Heimatstaat in nahem zeitlichen Zusammenhang mit der erlittenen Verfolgung verlässt. Dieser zeitliche Zusammenhang war hier im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger im Jahr (...) ersichtlich nicht mehr gegeben.

Es kann dahingestellt bleiben, ob den Klägern zum Zeitpunkt ihrer Ausreise im Jahre (...) im Norden Sri Lankas eine gruppengerichtete politische Verfolgung allein wegen ihrer tamilischen Volkszugehörigkeit etwa durch Übergriffe der srilankischen Regierungstruppen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die LTTE drohte (hierzu bejahend bis 1995 der 12. Senat des Hess. VGH in ständiger Rechtsprechung, siehe Urteil vom 11.12.1995 - 12 UE 2151/95 -; bejahend für das Jahr 1991 auch der 10. Senat, Urteil vom 10.12.1996 - 10 UE 2117/95 -; siehe auch OVG Niedersachsen, Urteil vom 01.03.1994 - 12 L 7098/91 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 06.11.1992 - 21 A 13040/91.A -). Jedenfalls stand einem srilankischen Staatsangehörigen tamilischer Volkszugehörigkeit vor seiner Ausreise im Großraum Colombo eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung (vgl. Urteil des Senats vom 03.05.2000, a.a.O., S. 35 ff; eine Fluchtalternative bei Ausreise Anfang der neunziger Jahre bejahend auch 10. Senat des Hess. VGH, so u. a. Urteile vom 11.06.1996 - 10 UE 1919/95 und 10 UE 3183/95 -, vom 01.11.1996 - 10 UE 1988/95 - sowie vom 10.11.1998 - 10 UE 3035/95). Ein srilankischer Staatsangehöriger tamilischer Volkszugehörigkeit hatte dort grundsätzlich die Möglichkeit, wenn auch unter bescheidenen Verhältnissen, verfolgungsfrei zu leben. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf sein in das Verfahren eingeführte Urteil vom 3. Mai 2000 - 5 UE 4657/96.A - sowie auf die darin angeführten Erkenntnisse, die auch in das vorliegende Verfahren eingeführt wurden, Bezug.

Die unverfolgt ausgereisten Kläger können ihre Asylanerkennung auch nicht aufgrund eines im Sinne von § 28 AsylVfG beachtlichen Nachfluchtgrundes verlangen.

Der Senat hat sich in seinem Urteil vom 3. Mai 2000 unter Berücksichtigung der bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisquellen ausführlich damit auseinander gesetzt, dass tamilischen Volkszugehörigen heute und in naher Zukunft in keinem Landesteil Sri Lankas mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gruppengerichtete politische Verfolgung droht. Sämtliche der in dieser Grundsatzentscheidung zur Frage der Gruppenverfolgung verwerteten Erkenntnisquellen sind auch in das vorliegende Verfahren eingeführt worden. Erkenntnisse die Anlass geben könnten, diese Einschätzung im Hinblick auf den vorliegenden Fall im Ergebnis neu zu überdenken, liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vor. Die Erkenntnisquellen, die nach Verkündung des Grundsatzurteils vom 3. Mai 2000 zugänglich geworden und in dieses Verfahren eingeführt worden sind, veranlassen den Senat allerdings zu folgenden Ergänzungen: ...

Im Rahmen der Neufassung der "Emergency Regulations" wurden unter Bezugnahme auf die am 03. Mai 2000 verhängte Kriegsbereitschaft ("War Footing") und die daraus abgeleiteten Vorschriften über die öffentliche Sicherheit und Ordnung erweiterte Sicherheitsbestimmungen in Kraft gesetzt, die der Regierung weitreichende Eingriffe in Bürgerrechte erlaubten ( AA, 06.09.2002).

In der Praxis sind die seit dem 3. Mai 2000 vorgesehenen Möglichkeiten für die Verhaftungs- und Sistierungspraxis der Sicherheitsorgane im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (AA, 06.09.2002) jedoch weitestgehend ohne Auswirkungen geblieben.

Das Hauptinteresse der Regierung bestand in den letzten Jahren in der Verhinderung weiterer mit den Aktivitäten der LTTE verbundenen Straftaten. Dabei bestand die Absicht, einerseits die LTTE konsequent zu bekämpfen und zu isolieren, andererseits Kader, die sich von der LTTE gelöst haben, in die Gesellschaft wieder einzugliedern.

Die Umsetzung dieses vielfach als wegweisend angesehenen Wiedereingliederungsprogrammes verlief über mehrere Jahre problemlos.

Im Zusammenhang mit den Sicherheitsmaßnahmen zur Verhinderung und Aufklärung von Bombenanschlägen der LTTE ist es im Jahr 2000 zu einer großen Zahl von meist kurzfristigen Festnahmen ganz überwiegend tamilischer Personen gekommen. In der Regel handelte es sich um Fälle, in denen sich von der Polizei oder Armee bei Personenkontrollen Überprüfte nicht hinreichend ausweisen konnten und zum Zwecke der Identitätsprüfung in Polizeigewahrsam genommen wurden. Die meisten der derart Festgenommenen wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Infolge des einseitigen Waffenstillstandes der LTTE und entsprechender Zurückhaltung auch in Colombo kam es im ersten Halbjahr 2001 zu weniger Razzien, Überprüfungen und Kurzzeitfestnahmen.

Bedingt durch den Verlust der Mehrheit im Parlament konnte die Geltungsdauer der "Emergency Regulations" im Juli 2001 nicht verlängert werden, so dass sie am 4. Juli 2001 außer Kraft trat. Daraufhin wurden auf Grund des Art. 27 des PTA Verordnungen erlassen, welche unter anderem alle Verwaltungsbezirke des Landes zu Sicherheitszonen, Colombo zur Hochsicherheitszone erklären, die LTTE verbieten, jede Art von Unterstützung der LTTE mit 15 Jahren Gefängnis bedrohen und die Einziehung aller Guthaben der LTTE oder finanziellen Mittel, die zu ihrer Unterstützung dienen, ermöglichen.

Nach Auskunft der Deutschen Botschaft Colombo (03.09.2002) wird auch der PTA unter dem derzeitigen Waffenstillstandsabkommen nicht angewandt. Am 23. Juli 2002 setzte die Präsidentin eine Kommission ein ("Truth Commission on Ethnic Violence"), welche die Ursachen und das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in der Zeit von 1981 bis 1984 untersuchen soll. Die Kommission ist darüber hinaus befugt, die Verantwortlichen zu benennen und über mögliche Wiedergutmachung zu entscheiden (AA, 06.09.2002).

Seit der Wahl des bisherigen Oppositionsführers Ranil Wickremasinghe, der den Wählern versprochen hatte, Frieden herbeizuführen, ist es zu einer deutlichen Entspannung der innenpolitischen Lage gekommen. Auch nach Mitteilung des Sachverständigen Keller-Kirchhoff (17.04.2002) ist es seit den Neuwahlen in Bezug auf die LTTE zu einer "Kehrtwende" gekommen. Am 24. Dezember 2001 trat eine von der LTTE erklärte Waffenruhe in Kraft, der sich die Regierung anschloss.

Bei der ersten Gesprächsrunde der Friedensgespräche am 18. September 2002 vereinbarten die srilankische Regierung und die LTTE unter anderem die Gründung einer Kommission, die sich um die Rückkehr von Flüchtlingen in die Kampfgebiete, um Minenräumung sowie um den Wiederaufbau der zerstörten Region kümmern soll (FAZ, 19.09.2002). Allerdings wurden die Friedensgespräche überschattet durch zwei Zwischenfälle im srilankischen Osten bzw. Nordosten Sri Lankas im Oktober 2002. In der Stadt Amparai kam es zu Demonstrationen, bei denen durch die Sicherheitskräfte acht Tamilen erschossen wurden (FR, 11.10.2002). Dieser Vorfall führte in der Nähe von Trincomalee am Folgetag zu weiteren Gewaltausbrüchen, bei denen im Zusammenhang mit einer Granatenexplosion und erneuten Schüssen der srilankischen Polizei weitere drei Personen getötet und 35 verletzt wurden (FAZ, 12.10.2002). Ungeachtet dieser Zwischenfälle ging die zweite Runde der Friedensgespräche am 3. November 2002 mit größeren Fortschritten zu Ende. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung kann erst recht nicht von einer Gruppenverfolgung von Tamilen in Sri Lanka gesprochen werden. Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Norden und Osten haben aufgehört und ebenso die terroristischen Aktivitäten der LTTE im Süden und Westen, die ständig Anlass für Verhaftungsaktionen der Regierung waren.

Den Klägern droht auch keine politische Verfolgung wegen der im Rahmen ihrer Einreise zu erwartenden Einreisekontrollen von Seiten der srilankischen Sicherheitsbehörden.

Der Senat hat bereits in seinem Grundsatzurteil vom 3. Mai 2000 festgestellt, dass lediglich für Personen, bei denen sich bei der Einreise der Verdacht auf LTTE-Unterstützung oder -Mitgliedschaft verdichtet bzw. die auf den zum Datenabgleich geführten Fahndungslisten erfasst sind, die Gefahr einer längerfristigen Inhaftierung bestehen kann. Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes ist es verschiedentlich vorgekommen, dass aus dem Ausland zurückgekehrte Personen, die sich durch eine aktive Tätigkeit exponiert hatten, durch die Polizei- und Sicherheitsbehörden nach Vorführung vor den Untersuchungsrichter in Negombo für einige Tage festgehalten und befragt wurden (AA, 06.09.2002). Auch gebe es nach Aussagen aus srilankischen Anwaltskreisen nur sehr wenige Fälle, in denen es bei im Ausland begangenen Aktivitäten zur Unterstützung der LTTE überhaupt zur Anklage gekommen ist (AA, 06.09.2002). Da keine Anhaltspunkte für einen konkreten Verdacht der LTTE-Unterstützung oder -Mitgliedschaft bei der Klägerin zu 1. und erst recht nicht bei dem Kläger zu 2. erkennbar sind, kann nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass ihnen bei der Rückkehr eine politische Verfolgung durch den srilankischen Staat droht.